Die schweren Schritte über die Gangway

Datum: Dienstag, der 25.11.2020
Mittagsposition: Santa Cruz de la Palma
Autor: Jakob (Wachführer der Wache 2 auf der ersten Etappe)

Gedanken darüber, wie es ist, erneut an Bord zu gehen, an Bord zu sein und wiederholt von Bord zu gehen.

Leave her, Johnny, leave her
Oh leave her, Johnny, leave her
For the voyage is done, and the winds don’t blow
and it’s time for us to leave her

Zum Horizont zu gelangen treibt mich seit jeher an. Darauf zuzugehen und zu merken, wie er mir entschwindet, ist dabei so frustrierend wie beruhigend zugleich: eine tiefe Sehnsucht bleibt, ein Wind, der stets in meine oft vom Landleben und der Bürgerlichkeit abgeschlafften Segel bläst.

Der Horizont zeigt dabei so unterschiedliche Gesichter wie das Meer und seine Blauschattierungen. Manchmal glasklar gezogen, die Kimm scharf wie ein Rasiermesser. Dann nur chimärenhaft erkennbar, dunstig und schleierhaft. Bald vom Mondlicht beschienen, bald unendlich dunkel. Vielleicht getrübt durch Regen, der in der Ferne niedergeht, oder schon gezeichnet von feinen Konturen fernsten Landes. Oder doch nur Wolken?

Über den Horizont zu lugen ist wohl der archetypische Antrieb jeglicher Seefahrt. Schauen, was dahinter ist. Schwelge ich in Romantik, gebe ich zur Antwort, warum ich um die Welt segeln will: Ich muss mich vergewissern, dass sie rund ist. Warum und wem sollte ich das glauben? Kleist schrieb, dass wir das Paradies vielleicht von hinten betreten können, der Haupteingang sei verriegelt. Dieses hinten liegt vielleicht hinterm Horizont.

Welch besseres Gefährt, als ein Schiff, von dem aus sich riesige weiße Tücher erheben und in die Wolken übergehen?

Welch bessere Route als der Kompassnadel oder den Winden hinterher, immer in Richtung des Horizontes?

Und: Welch bessere Begleitung als Menschen, die ebenso hinter den Horizont lugen wollen?

Vor zwei Jahren ging ich nach meiner erste KUS-Reise und zwei Atlantiküberquerungen müde aber wehmütig von Bord. Vor gut zwei Monaten ging ich ebenso wehmütig an Bord: Wieder unterwegs zu sein auf diesem Ort, der selbst unterwegs ist durch die Orte. Ein Ort, der selbstgenügsam ist, aus sich selbst und für sich selbst lebt, wo – nebst dem Blick auf die Wetterkarte – nur die Gegenwart und ein paar Meter nach oben und nach vorne zählen.

Oh, the times were hard and the wages are low,
Leave her, Johnny, leave her!
I guess it’s time for us to go,
And it’s time for us to leave her!

Von Bord zu gehen war allen Seeleuten eine zwiespältige Angelegenheit: Die Vorfreude auf ein trockenes zu Hause steht der Trennung von Vertrautem gegenüber: vertraute Menschen, vertrauter Alltag, vertraute Geräusche, sogar einzelne Tampen scheinen mir so vertraut wie der Baum zu Hause im Garten. Doch dann ein ebenso vertrautes, aber ungutes Gefühl: der Abschied. Die paar Meter von der Gangway runter fallen schwerer als all die tausend Meilen zuvor. Beinahe vergessen die durchschaukelten und schlechten Nächte, der Geruch von Erbrochenem, der Maschinenlärm und Gegenwind, die Nähe zu Land mit geschlossenen Hafenkneipen, so schwer fällt es, von Bord zu gehen.

Mit Dank blicke ich zurück auf die vergangenen Wochen und Seemeilen, in denen ich erneut lehren und lernen durfte, gegeben und genommen habe, erahnt habe, wie Zusammenleben auch gestaltet werden kann, Blicke auf Natur erhascht habe, wiederholt erfahren habe, wie groß und bunt die Welt ist. Ich bleibe unruhig, im Wissen, dass die Thor jenen Routen folgt, auf denen sich die europäischen Eroberer ihre Bahn zu Ausbeutung und Imperialismus gebahnt haben, unruhig im Bewusstsein, dass unser relativ sorgloses Schiff jene Gewässer durchpflügt, auf die sich auch Menschen in seeuntauglichen Booten wagen, um ihr Recht nach einem besseren Leben zu suchen. Im englischen Kanal denke ich an Calais, wo Menschen im sogenannten Dschungel hausen und nicht nach vor und zurück dürfen. Bei der Straße von Gibraltar sehe ich auf der Seekarte Ceuta und Melilla, jene spanischen Enklaven in Afrika, wo sich Europa mit meterhohen Zäunen abschottet. Vor den Kanaren erzähle ich dem Rest der Crew von meinen Erfahrungen am Mittelmeer mit Sea-Watch und was es bedeutet, auf flüchtenden Menschen auf See zu begegnen.

Ich gehe also dankbar und unruhig von Bord. Und zugleich bleibt da eine Sehnsucht, der schon so viele Menschen auf See hinterherlechzten.

Ich wünsche euch gute Winde, die euch in Richtung Horizont treiben.

The sails all furled, our work is done,
Leave her, Johnny, leave her!
and now ashore we’ll take our rum
And it’s time for us to leave her!