Klassenzimmer ohne Segel

Nach einem emotionalen Abschied vom Schiff und allen anderen, die über die letzten 6 1/2 Monaten zu einer zweiten Familie für uns geworden waren, ging es für mich mit dem Auto nach Hause. Aber wo ist überhaupt zuhause? Bei unseren Familien und Eltern, da wo wir unsere Kindheit verbracht haben, oder doch an Bord der Thor Heyerdahl, die über das letzte halbe Jahr zu unserem Zuhause geworden ist? Und obwohl uns diese Frage schon lange vor dem Moment des Abschieds beschäftigt hat, obwohl sie Thema in mehreren Reden und kulturellen Beiträgen war – eine wirkliche Antwort darauf gibt es wohl nicht. Aber vielleicht ist es ja auch ganz schön, nicht nur ein Zuhause zu haben, sondern zwei oder auch drei, wenn man die Aufenthalte in den Gastfamilien auf Dominica oder in Panama mitzählt. Und genauso schön kann es sein, nicht nur eine Familie und eine Freundesgruppe zu haben, sondern noch eine zweite Familie, die Thor-Familie und Freunde verteilt in Deutschland und der ganzen Welt. Und trotzdem bedeutet es, in seinem alten Zuhause anzukommen, sich ein Stück von seinem neuen Zuhause loszulösen. 

Nach der Autofahrt, auf der ich bereits viel, aber noch längst nicht alles über unsere Reise berichtet hatte, war eines der ersten Dinge, die ich getan habe, das Ausräumen der Taschen und Sortieren der Inhalte. Besonders war dabei das Auspacken der vielen Andenken und Souvenirs, schließlich hängen an jedem von ihnen Erinnerungen oder auch kleine Geschichten und Anekdoten.

Um die vielen Erlebnisse und Erfahrungen der Reise zu verarbeiten, und nicht direkt mit neuen (alten) Eindrücken überflutet zu werden, waren viele der Kusis noch eine zusätzliche Woche freigestellt worden. Anders als die letzte Woche an Bord, die von vielen letzten Malen geprägt war, war diese erste Woche bei mir geprägt von vielen ersten Malen. Das erste Mal alleine in einem eigenen Zimmer schlafen, dass einem auf einmal viel zu groß vorkommt, genau wie der Rest des Hauses. Zum ersten Mal selbst entscheiden, was und wann man essen möchte, wann man aufsteht und wie der Tag strukturiert oder auch nicht strukturiert wird.

Schon in der ersten Woche fanden bereits einzelne Treffen und Besuche von KUSis im kleineren Maßstab untereinander statt, aber auch der Austausch mit den „alten“ Freunden zuhause, mit Großeltern und Verwandten, die die Reise mitverfolgt hatten, kam nicht zu kurz. Dabei kam häufig als erstes die Frage: „Und? Wie war´s denn?“ Eine richtige Antwort gibt es darauf leider nicht, schließlich lässt sich das Erlebte der letzten Monate nicht in einem Satz zusammenfassen, sodass die Antwort allzu oft ein einfaches „Gut“ war.

Auch am ersten Tag in der Heimatschule waren viele Mitschüler und Lehrer interessiert an dem Erlebten und stellten viele Fragen. Dabei hat mich persönlich überrascht, dass ich auch von Mitschülern oder Lehrern begrüßt wurde, von denen ich es eigentlich nicht erwartet hätte.

Genau wie beim Ankommen im „alten“ Zuhause kam einem auch in der Schule vieles fremdartig und gleichzeitig auch bekannt und vertraut vor. Der Schulweg, die Menschen, das Gebäude, alles war eigentlich gleich geblieben, auch wenn wir jetzt vielleicht aus einem anderen Blickwinkel darauf schauen. Gleichzeitig waren einem völlig normale Dinge fremd geworden: Lehrer zu siezen und auch selber gesiezt zu werden, mit einem Rucksack loszugehen, mit dem Fahrrad zum Bahnhof zu fahren und in den Zug zu steigen.  All das steht im Kontrast zu dem Unterricht, den wir an Bord der Thor kennengelernt haben, wo der Schulweg aus wenigen Schritten bestand und man die Lehrer mit ihren Vornamen angesprochen hat.

Und auch wenn ein Klassenzimmer ohne Segel, in dem man sich nicht bei jeder Welle festhalten muss, in dem man keine nassen Füße bekommt und einem die Buchseiten nicht vom Wind durcheinander geweht werden, natürlich längst nicht so aufregend ist, zur Abwechslung ist es vielleicht auch mal ganz schön.