Auf der Ladeluke

Datum: 16.11.2024
Mittagsposition: 22°48,7‘N; 018°15,6‘W
Etmal: 113 sm
Lufttemperatur: 23° C, Wassertemperatur: 23° C, Windrichtung und Stärke: 0

Es ist irgendwas zwischen 17 und 18 Uhr. Die Abendsonne steht schräg. Wenn eine günstige Welle den Mast etwas zu Seite neigt, blitzt die Sonne auch bei mir auf der Ladeluke kurz auf. Vorne am Bug gibt es aber nicht viel, wohinter sich die Sonne verstecken könnte. Vielleicht ist das der Grund, warum sich dort gerade so viele aufhalten. Auf dem Spinningbike werden letzte Energiereserven gefordert, während direkt daneben ähnlich konzentriert, aber mit etwas weniger Schweiß gehäkelt wird. Das Brummen eines Akkuschraubers, der für einen Poolaufbau verwendet wird, vermischt sich mit den Geräuschen der Haarschneidemaschine mit der mal mehr, aber gerade etwas weniger professionell Frisuren geschnitten werden. Die Hauptstimme dieser Symphonie bildet aber ein Klavier in der Mitte, das der ganzen Szenerie eine Hintergrundmelodie gibt. Angespornt durch das schöne Klavierspiel beginnen auch andere mit ihrem Beitrag zur Geräuschkulisse. Neben mir auf der Ladeluke meine ich beispielsweise schon die Ansätze der Gitarrenakkorde von „Riptide“ ausmachen zu können. Je länger ich zuhöre, desto sicherer werde ich mir.

Heute war unser erster Tag im neuen System, in unserem neuen Alltag. Es gibt jetzt Unterricht und Praktika. Die Thor muss aber natürlich auch noch gefahren werden, aber ab jetzt statt mit acht Schüler/-innen mit vier bis fünf und in manchen Fällen auch nur mit zwei. Angefangen hat der Unterricht mit jeweils einer Doppelstunde Spanisch und Astronavigation mit der einen Hälfte der Schüler/-innen freitags und der anderen Hälfte samstags. Es gibt jetzt einen Stundenplan. Der Unterricht ist jedoch anders als daheim: Draußen in kurzer Hose bei angenehmem Wind fällt einem das Lernen deutlich einfacher. Spanisch finde ich persönlich zwar anspruchsvoll, da für mich alles bis auf ein paar Parallelen zum Französischen, die eher verwirren als helfen, neu ist. Motivierend finde ich aber, dass das Erlernte während der Reise noch wichtig wird. Genauso ist es mit Astronavigation. Diese Art zu navigieren wird noch sehr wichtig für die nächsten Schiffsübergaben. Spannend war auch, dass wir nach der Theorie das erste Mal durch den Sextanten schauen durften.

Ich finde es schön, dass wir jetzt für diese Zeit einen festgelegten Rhythmus haben, da sich so ein Alltag bilden kann. Eigentlich möchte ich eher dem Alltag entfliehen, aber ein Alltag und vor allem dieser Alltag unter Segeln wird meiner Meinung nach für eine Routine und damit eine gewisse Ruhe sorgen, die ich auch wichtig finde. Mit Ruhe meine ich jedoch nicht die Abwesenheit von Geräuschen. Ich meine eine Ruhe im Gemüt der Gruppe. Als ich vorne auf der Ladeluke saß, meine ich diese Ruhe gespürt zu haben, obwohl ich eigentlich ganz viele verschiedene Geräusche wahrgenommen habe.

Diese friedliche Atmosphäre wird ebenfalls von äußeren Begebenheiten unterstützt. Das Meer ist wieder spiegelglatt durch den immer noch fehlenden Wind und der Himmel erstrahlt in schönem Blau fast wolkenlos. Wale, Delfine und Meeresschildkröten begegnen uns schon so häufig, dass meine Priorität bei sehr großem Hunger eher bei der Spaghetti Aglio Olio liegt als den Delfinen, die gerade auf Backbord aus dem Wasser heraufschauen. Alles scheint perfekt zu sein. Es gibt aber leider nicht nur süße Meeresbewohner zu sehen.

Schlauchboote voller Flüchtlinge kannte ich davor nur von Bildern. Heute, am Samstag, sahen wir eines -circa 100 Personen gedrängt in einem kleinen Boot mit Kurs auf die Kanaren. Niemand bat um Hilfe und augenscheinlich war alles in Ordnung. Wir konnten nur ohnmächtig zusehen, wie sie an uns vorbeirauschten und schnell am Horizont verschwanden. Ein Hinterherfahren mit der Thor wäre unmöglich gewesen, da wir viel zu langsam sind. Wir konnten nur die Seenotrettung über dieses Boot informieren und auf weitere Informationen warten. Ab diesem Zeitpunkt konnte ich beobachten, wie sich das Gemüt der Gruppe von Ruhe und Frieden zu Bedrückung und eine Art Trauer gewandelt hat.

Normalerweise finde ich, dass politische Geschehnisse in unserem heilen Mikrokosmos wenig greifbar wirken, irgendwie fern, da sich mein Leben hauptsächlich auf dem Schiff abspielt und eigentlich nur Wasser um uns herum ist. Der schon zur Gewohnheit gewordene Frieden umgibt uns. Diese Begegnung hat mir aber sehr eindrücklich ins Gewissen gerufen, dass wir eben nicht nur von Wasser und Delfinen umgeben sind, dass um uns herum eine andere Realität herrscht. Uns trennt nur etwas Wasser von dieser Parallelwelt, sowohl bei uns auf der Thor als auch dort, wo du wahrscheinlich sitzt, in Europa.

KUS-Ticker

Freitag, 15.11.2024

  • 08:10 Uhr: Erste Spanischeinheit
  • 10:10 Uhr Erster Unterricht in Astronavigation
  • 12:36 Uhr: Sichtung einer Walschule von ca. 50 Walen
  • 15:15 Uhr: Projekte
  • 17:00 Uhr: Vortrag Wale und Delfine von Lene
  • 23:30 Uhr: Delfinsichtung bei Mondschein

Samstag, 16.11.2024

  • 01:00 Uhr: Delfinsichtung
  • 03:00 Uhr: Walsichtung
  • 03:30 Uhr: Delfinsichtung
  • 10:06 Uhr: Sichtung eines Boots mit Geflüchteten
  • 12:51 Uhr: Sichtung einer Walschule von ca. 50 Walen
  • 14:30 Uhr: Walsichtung Indischer Grindwal           
  • 13:00 Uhr: Großreinschiff
  • 15:30 Uhr: Versteigerung Lost and Found & kulturelle Beiträge
  • 20:15 Uhr: Filmabend Kon Tiki