Der zweite Abschied
„Der Kreis schließt sich.“ Diese Worte waren nicht nur sehr bezeichnend für den Moment, in dem die Schleusen des Nordostseekanals nach 187 Tagen wieder in Sicht kamen. Durch unsere Routenänderung, die uns nördlich um Schottland und durch das Skagerrak führte, war das nämlich der erste Punkt, an dem sich unsere Reiseroute kreuzte. So vieles hat sich seitdem verändert, und doch sah alles gleich aus.
Die nächsten beiden Tage steckten nochmal voller Arbeit und wir konnten, wie Ruth so schön sagte, „zeigen, was wir alles gelernt haben“. Nachdem wir die Thor schon vor Anker in Dänemark in einen glänzenden Zustand versetzt hatten, stand nun der Auszug auf dem Plan. Bevor es jedoch an unsere persönlichen Sachen ging, musste erst einmal alles von Bord geschafft werden, was nicht für die bevorstehende umfassende Werftzeit benötigt wurde. Es war sehr traurig zu sehen, wie die Thor Kiste für Kiste immer weniger zu unserem Zuhause wurde: Die Bibliothek, in der wir so viele lange Abende verbrachten, in der wir so viel lachten, lernten und arbeiteten, war nun völlig kahl und leer. Die Last, Ursprungsort so vieler kreativer Basteleien und Geschenke, durfte nun nicht mehr genutzt werden. Den Laptops trauerten allerdings nur die wenigsten hinterher. Als schließlich alles erledigt war, gingen wir in der Heikendorfer Bucht vor Anker, wo am folgenden Tag auch unser Auszug stattfand. Zumindest für mich verlief er erstaunlich reibungslos, wenn man bedenkt, wie viel Chaos es zu Beginn der Reise gab. Nebenbei liefen auch die Vorbereitungen für das Captain’s Dinner, was man nicht nur an dem tollen Geruch aus der Kombüse merkte. Überall wurde gebastelt, dekoriert und kulturelle Beiträge wurden einstudiert, bis um 17.00 Uhr alle Kammern ausgeräumt und die Messe ausstaffiert war.
Nur etwas später fuhr auch das Rescueboat los, um die Stammis abzuholen, die uns während der Reise verlassen haben. Bei den ganzen Gedanken an Abschied war dieses Wiedersehen eine sehr willkommene Abwechslung und wir tauschten uns ganz aufgeregt über unsere Erlebnisse aus, bis schließlich die vertraute Klingel den letzten Abend dieser Reise einläutete. Nach einer Ansprache von Ruth und Detlef gab es für alle einen alkoholfreien Piña Colada, der mich direkt an das Viñalestal auf Kuba erinnerte, als wir am Pool saßen und einen solchen schlürften. Es fühlte sich wie letzte Woche an, doch nun war es mehr als zwei Monate später und auch fast 20 Grad kälter, weswegen wir bald auch in die warme Messe wechselten. Die ganzen Vorbereitungen waren absolut nicht umsonst, denn sie war wunderschön geschmückt und auch das Essen, ein Dreigängemenü, konnte locker mit Weihnachten und Silvester mithalten. Vor allem die kulturellen Beiträge waren ein Highlight, denn sie hätten nicht vielfältiger und besonderer sein können. Man merkte, dass sich jeder nochmal richtig ins Zeug legte, egal ob mit Gedichten, Liedern, Erzählungen, einem Quiz oder auch einer Tombola, bei der besondere Gegenstände der Reise verlost wurde, zum Beispiel unser Geburtstagsfrosch. Von Melancholie über brüllendes Gelächter bis hin zu respektvoller Bewunderung waren alle Emotionen vertreten, auch wenn die Stimmung generell sehr heiter war. Vielleicht hatte niemand so wirklich realisiert, dass das nun wirklich der letzte Abend war, oder vielleicht lag es auch genau daran und jeder wollte nochmal alles auskosten. So oder so, es waren die wohl intensivsten Stunden dieser Reise, die leider – wie eigentlich die ganzen 189 Tage – viel zu schnell verflogen. Auch nach dem offiziellen Abschluss und dem Ausbooten der Gäste herrschte noch Hochstimmung, bis wir dann irgendwann in die Kojen geschickt wurden.
Nur drei Stunden Schlaf gingen dem wahrscheinlich prägendsten Tag dieser Reise voraus, da wir von Wache 3 alle gemeinsam die letzte Ankerwache gehen wollten. Der Rest konnte allerdings auch nicht viel länger liegen bleiben, da es bereits um 0615 Frühstück gab. Ganz anders als noch vor wenigen Stunden herrschte nun eine sehr bedrückende Atmosphäre, die das norddeutsche Wetter draußen eigentlich ganz gut beschrieb. Jeder verfiel in eine fast andächtige Stille und nur das Nötigste wurde gesprochen. Jeder begriff nun die Tragweite der gefürchteten Verabschiedungsrunde, zu der wir uns danach auf dem Hauptdeck trafen. Diese Verabschiedung sollte noch einigermaßen in Ruhe stattfinden, vor dem Trubel, der auch Einlaufen genannt wurde. Für jeden hatten wir genau eine Minute Zeit. Eine Minute. Wie konnte man nur die Wertschätzung und Dankbarkeit, mit all diesen wundervollen Menschen eine so unglaublich schöne Zeit verbracht zu haben, in eine Minute fassen? Es war schlicht nicht möglich, doch der Versuch endete in einer sich umarmenden, weinenden Masse. Bereits nach den ersten drei Minuten war ich völlig fertig und auch die restlichen 46 waren zumindest emotional die härtesten der Reise, wenn nicht sogar meines Lebens. Ein kleiner Trost war zumindest das Bewusstsein, nicht für immer Abschied von dieser großartigen Familie zu nehmen, auch wenn ein Wiedersehen unter diesen Umständen wohl nie wieder stattfinden würde. Zum Glück half das darauffolgende Reinschiff, nicht nur Ordnung ins Schiff, sondern auch in die Gedanken zu bringen. Doch das Unvermeidbare rückte näher: Das Ankerspill sprang an und nun gab es im wahrsten Sinne des Wortes keinen Halt mehr. Das Einlaufen stand nun so kurz bevor und trotzdem war es immer noch unbegreiflich. Mit angelegten Gurten trafen wir uns alle gemeinsam auf dem Hauptdeck, von wo aus es direkt ins Rigg ging, ein letztes Mal. In meinem Kopf vermischten sich tausend Fragen mit Nervosität, Wehmut und eigentlich auch allem anderen. Wir zählten nicht mehr die Stunden, sondern die Minuten, als wir langsam in die Schwentine einbogen. Nervöse Blicke in die Ferne führten schließlich zu dem erwarteten Ergebnis, als langsam die riesige Menschenmenge an der Pier sichtbar wurde. Das Thyphon erklang dreimal lang, einmal kurz, wobei mir ein eiskalter Schauer den Rücken runterlief. Zwei Welten trafen mit solcher Wucht aufeinander, dass kein Fender dies hätte verhindern können.
Und dann? Dann waren wir „angekommen“, was auch immer das heißen mag. Als die Gangway angebracht war, konnten wir an Land, zu unseren Familien. Es war so unwirklich und ich war so maßlos überfordert, dass ich nicht wirklich etwas fühlen konnte. Als erste fiel mir meine Schwester um den Hals und es folgten abermals Minuten voller Tränen und Umarmungen. Zurück an Bord begann dann die offizielle Begrüßungszeremonie, die sich für uns aber eher wie ein weiterer Abschied anfühlte. Wie beim ersten Abschied blickten wir vom Hauptdeck auf diese Menschenwand hinauf, doch diesmal fühlte sich so anders an. Es wurden Reden gehalten, Musikbeiträge zum Besten gegeben und wir bekamen unsere Seemeilenbestätigung zu einem lustigen Sechszeiler: 13.154 – diese Zahl steht also für all die Wachen, Unterrichtsstunden, Backschaften, Segelmanöver, Schülerversammlungen, Sonnenuntergänge und jeden einzelnen unvergesslichen Moment. Achtmaliges Glasen der Schiffsglocke markierte den offiziellen Abschluss dieser Reise. Danach zerstreuten wir uns und verschmolzen mit der Menschenmenge an der Pier. Die Thor wurde für Schiffsführungen freigegeben, wonach ich meine Familie fast zwei Stunden durch unser Zuhause führte. Bei jeder Erklärung schwelgte ich in Erinnerungen und es war surreal, nun alles so kahl und leer zu sehen. Während dieser Zeit verabschiedeten sich viele auch endgültig, und mit jeder Umarmung wurde mir schmerzlicher bewusst, dass es nun wirklich vorbei war. Der Moment, vor dem ich mich immer mehr gefürchtet hatte, stand nun so unmittelbar bevor, dass es keinen Sinn mehr hatte, ihn noch länger hinauszuzögern. Man kann sich so lange verabschieden wie man will, irgendwann muss man einfach loslassen. Mit Tränen in den Augen machte ich meine letzten Schritte von Bord und kehrte damit in mein altes, unvertrautes Leben zurück. Die Zukunft ist voller Unsicherheiten, doch eins war klar:
Die vergangenen Tage waren geprägt von letzten Malen. Das Überschreiten dieser Gangway gehörte nicht dazu.
Worte können das eigentlich gar nicht ausdrücken, aber hier bleibt mir ja nichts anderes übrig: Danke an alle, die diese unglaubliche Reise ermöglicht und begleitet haben. Ihr werdet für immer einen Platz in meinem Herzen haben, der wesentlich größer ist als Kammer 9.