Geschwindigkeit
Wir sind mit 5-6 Knoten unter Sturmbesegelung (Schoner im 2.Reff, Breitfock und Baumfock) gesegelt, bis wir die Maschine angemacht haben, um dann nur noch schneller die Azoren zu erreichen und dem Sturmtief möglichst gut aus dem Weg zu segeln, das sich über den Nordatlantik erstreckt und dessen Einflussbereich auch die Azoren umfasst. Die Maschinenunterstützung nutzen wir in erster Linie, um schneller im Hafen zu sein und dem Sturm davon zu segeln und sie hilft uns, mehr Kontrolle am Ruder zu haben.
Ich möchte ein kleines Bild von der Wache, die ich vorhin gegangen bin, zeichnen: Alle sind fokussiert. Uns ist klar, dass wir jetzt konzentriert arbeiten müssen, um sicher zu segeln. Das heißt, dass alle, die nichts zu tun haben in der Wache, auf den Backskisten sitzen, sich mit ihrem Klettergurt an Deck sichern und aufmerksam sind. Wir gehen die Wachen mittlerweile in voller Besetzung, sodass sich immer etwa 10 oder 12 Personen auf dem Achterdeck aufhalten. Im Ausguck wird sich natürlich auch gesichert, ebenso am Ruder. Rudergehen müssen wir zu dritt: Einer am Steuerrad selbst, einer daneben, um mit einzugreifen, wenn es zu schwer wird, Ruder zu legen, und um immer einen Blick auf das kommende Wetter und die Front, die bald durchziehen wird, zu haben.
Auf der anderen Seite neben dem Kompass steht ein Stammmitglied, das uns unterstützt und ansagt, wie wir das Ruder legen müssen. Wir müssen gut aufpassen, dass wir auf Kurs bleiben, was gar nicht so leicht ist, da uns manche Wellen um 20 Grad vom Kurs drückt. Das muss ständig ausgeglichen werden. Ich stand nur 25 min am Ruder und war hinterher völlig verschwitzt. So legen wir in rasendem Tempo von fast 8 Knoten die restliche Strecke zu den Azoren zurück.
Geschwindigkeit. v = s / t. Strecke durch Zeit. Aber welche Strecke legen wir zurück? Klar, die von den Kap Verden bis zu den Azoren – unsere 3. Etappe eben. Das sind etwa 1800 sm, also mehr als 3000 km, eine Distanz vergleichbar mit der Entfernung zwischen Hamburg und Kairo. Aber da ist noch viel mehr. Ich glaube, wir legen jeder für sich und doch gemeinsam enorm an Strecke zurück in Richtung… ja wohin denn? Vielleicht in Richtung erwachsen sein. Vielleicht in Richtung von Selbstständigkeit, uns selbst und unserer eigenen Idee von der Welt. Jetzt, wo ich diese Zeilen schreibe, umgeben von allen meinen Freunden, die ich auf der Thor gefunden habe, ergreift mich diese Erkenntnis sehr. Und betrachte ich dann noch die Zeit, in der das alles passiert sein muss und noch passieren wird, wird mir ganz warm ums Herz und doch ein bisschen kalt. Wir haben schon fast 4 Monate zusammen auf diesem Segelschiff verbracht und meines Erachtens eine Strecke zurückgelegt, dass es für eine Äquatorumrundung reichen würde.
Neben den Seemeilen, die wir auf der Seekarte wettgemacht haben, auch all die Schritte, die wir persönlich nur für uns oder gemeinsam mit anderen hier an Bord gegangen sind. So fühlt es sich für mich zumindest an. Ich saß letztens in meiner Koje und plötzlich wurde mir bewusst, wie natürlich es für mich geworden ist, mein „Zimmer“ mit drei weiteren KuSis zu teilen, und dass ich nicht ruhig in der Koje liegen kann, weil die Wellen meinen Körper hin und her rollen (was sehr schlafraubend sein kann, aber eigentlich will ich auch das genießen). Kalt wird mir deshalb, weil dementsprechend nur noch 2 Monate vor uns übrig bleiben. Ich möchte nicht, dass sie so schnell vergehen wie die letzte Etappe. Ich möchte mich weigern zu glauben, dass Zeit unterschiedliche Geschwindigkeiten haben kann. Aber ich denke, ich bin genau jetzt Zeugin davon.
Irgendwie hat alles eine Geschwindigkeit. Man erkennt das nicht immer sofort, fangen wir also mit einem einfachen Beispiel an: Der Thor. Sie bewegt sich mit einer gewissen Geschwindigkeit durch den Atlantik und schippert mit uns quer durch den Ozean. Vor drei Wochen habe ich, wenn ich den Niedergang zum Hauptdeck hochlief, oben die mal grüne oder mal eher sandige Luft von Land, den Kap Verden, geschnuppert. Heute ist das schon ganz anders. Ich muss gut aufpassen, wenn ich eben diesen Niedergang hochkomme, weil wir im Einflussgebiet eines Sturmtiefs segeln und da kann es sehr gut sein, dass eine große Welle das Deck und dann auch mich von oben bis unten nass spritzt. Deswegen ging es auch ganz schnell, dass das Ölzeug wieder im täglichen Gebrauch ist. An Deck sieht man wieder überall rote Jacken und leuchtend gelbe Kapuzen. Und ich rieche nicht mehr grünes oder sandiges Land, sondern blaues, strahlendes, glitzerndes, dunkles, grau-silbriges, schwarzes, tiefes Wasser. Den Atlantik. Er zeigt sich gerade eher von seiner härteren Seite; das Wasser wird in Tropfen von der Oberfläche weggeklaubt durch den starken Wind und wie feiner Regen waagerecht zur Oberfläche gepustet. Das ist so schön anzusehen. Wie schnell das Wasser und der Wind sind und somit auch wir!
„Wir“ sind auch schon mein zweites Beispiel für meine These, dass alles eine Geschwindigkeit hat. Damit meine ich im Grunde das, was ich vorhin schon geschrieben habe. Wir entwickeln uns hier an Bord und legen viel Strecke zurück in ganz schön schnell vergehender Zeit. Viel Strecke durch wenig Zeit = hohe Geschwindigkeit. Das bedeutet ja, dass wir uns bewegen, äußerlich wie innerlich. Und damit kann ich auch ganz gut verstehen, wie sich mein Blick auf alles um mich herum verändert. Am Anfang habe ich in das Gesicht eines anderen aus der Besatzung geschaut und habe ein fremde Person gesehen, bei der es mir schwergefallen ist, zu erahnen, wie es ihr geht, was sie fühlt oder denkt. Jetzt blicke ich in diese Augen und sehe einen Menschen vor mir, dem ich vertraue und der mich kennt und andersherum. Da muss sich etwas verändert haben in dem, was ich anschaue. Oder in dem, wie ich schaue und womit? Verändern kann sich etwas meistens durch Bewegung. Und wenn da Bewegung ist, ist da auch Geschwindigkeit. Da sind wir also wieder. Das Schiff hat eine Geschwindigkeit, wir haben eine Geschwindigkeit, meine Blicke und so manche Augenblicke haben ihre Geschwindigkeit. Alles ist in Bewegung und es geht immer weiter.
Finde ich das jetzt gut? Ich bin zwiegespalten. Zum Einen bin ich froh, dass wir uns bewegen, diese Strecke zurücklegen in genau diesem Tempo, denn sonst stünde ich noch immer in Deutschland auf festem Boden und viele seemeilenweit hinter dem, wo ich jetzt bin: an Bord der Thor. Ich wäre weit hinter dem, was ich gerade bin: ein glücklicher KUSi. Zum Anderen geht mir das zu schnell, weil ich weiß, dass es ein Zeitlimit gibt. Wenn diese 6,5 Monate vorbei sind, werden wir aufhören müssen, diese Strecke gemeinsam weiterzugehen. Schon sind wir auf den Azoren, heute Abend sollen wir da sein. Verrückt, wie langsam wir doch im Vergleich zu einem Flugzeug waren und trotzdem kam es mir so schnell vor. Aber es ist gut, dass wir nicht fliegend anreisen. Denn bei uns ist immer noch der Weg das Ziel. Und auf dem Weg geht es um die Geschwindigkeit und die Bewegung, und das ist es, was ich hier so liebe: Die gemeinsame Bewegung auf der Seekarte und durch die Karte in unseren Herzen.
Kus Ticker
Sonntag, 21.02.21
Mittagsposition: 35°40,1’N 031°33,9‘W
Etmal: 433,1sm
Wetter: Lufttemperatur: 19°C Wassertemperatur: 17°C
- 13:30: Vortrag von Freddie über Druck und Seefahrt
- Im Anschluss: Schülerversammlung zur Verteilung weiterer Vortragsthemen