Solo

Am 11. Februar 2022 steigen 33 Personen in zwei kleine, graue Dinghis und fahren an das Ufer der Insel Dominica. Sie legen an, betrachten kurz das Blau des Wassers, das vor ihnen in das dunkle Grün des Regenwaldes übergeht, verlassen dann nacheinander die Boote und fangen schweigend an, sich auf den Weg zu machen. Die Gruppe läuft langsam über die verworrenen Wurzeln der aufragenden Bäume einen schmalen Weg entlang und erreicht schließlich einen Strand. Einen langen Strand, der ausschließlich aus grauen Felsen besteht. An diesem Ort könnte man auf keinen Fall baden. Aber man kann sich setzen, vielleicht anlehnen und sich die vor einem liegende Landschaft ansehen. Man befindet sich am Rand einer kleinen Bucht, umringt von einigen schmalen Häusern, die vereinzelt im dichten Dschungel stehen. Dahinter erstreckt sich das Meer. Die 33 Personen verteilen sich nach und nach in alle Richtungen. Manche begeben sich in den Schatten des Dickichts, die Meisten suchen sich jedoch Vorsprünge direkt am Wasser.

Die nächsten drei Stunden widmet sich jeder Einzelne dem sogenannten „Solo“. Jeder Einzelne widmet sich sich selbst und hat die Möglichkeit, nachzudenken. Die Reise ist in insgesamt fünf Etappen eingeteilt. Fünf Etappen, die jeweils eine Zeit auf See und eine an Land einschließen, und während denen jedes Mal ein solches Solo stattfindet. Immer gegen Ende – immer an einem anderen Ort – jedes Mal ein wenig länger. Das erste Solo der Reise, in der ersten Etappe wurde auf der Finka Alexandria verbracht. Einer Finka, in der unheimlich nette Menschen lebten, die zusammen täglich beim weiteren Aufbau dieses Ortes halfen. Damals hatte man genau eine halbe Stunde Zeit, um nachzudenken und um die weiten, trockenen Bergkämme der Insel La Gomera zu betrachten. Auf Fogo, während des zweiten Teils der Fahrt, bot sich einem eine komplett andere Landschaft. Diese war unfassbar unwirklich. Das zweite Solo hatte die Dauer von zwei Stunden und fand in der Mitte eines riesigen Vulkanes statt. Die Luft um einen herum flimmerte in der Hitze. Man selbst saß auf einer weiten Fläche aus schwarzem Lavagestein und konnte die riesigen Felswände beobachten, die den Krater, in dem man sich befand, in allen Richtungen umschlossen. Jetzt ist man wieder an einem anderen Ort. An einem Ort zwischen Dschungel und Meer, irgendwo in der Karibik.

Ich setze mich auf einen Felsen nahe am Meer. Vom Wasser aus weht ein kühler Wind und die Wellen schwappen leise, in regelmäßigen Abständen ans Ufer. Zeit – drei Stunden lang. Zum Denken, Schreiben und auch zum Lesen. Zum Lesen eines zweiseitigen Textes, den ich seit langer Zeit nicht mehr gesehen habe. Dieses Solo auf Dominica hat eine Besonderheit. Aus dem Grund, dass mittlerweile die Hälfte der Reise überschritten ist, haben wir die Möglichkeit, noch einmal auf die letzten drei Monate zurück zu blicken. Wir haben die Möglichkeit, uns an die Zeit im Oktober zu erinnern, kurz bevor wir losgefahren sind.

Ich nehme den kleinen, blauen Brief, den wir heute ausgeteilt bekommen haben. Sein Inhalt ist in vier kurzen, auf dem Umschlag stehenden Worten beschrieben: „Brief an mich selbst“. Vor Beginn der Reise haben wir einen Brief an uns selbst geschrieben. Einen Brief, in dem wir unsere Gefühle, Ziele und Hoffnungen zusammenfassen sollten und der seit diesem Zeitpunkt bis jetzt für uns auf dem Schiff aufbewahrt wurde. Als ich den Brief geschrieben habe, war es gerade Herbst. Ich saß an meinem Schreibtisch in einem beheizten, kleinen Zimmer in Deutschland und füllte ein leeres Blatt Papier mit Worten, die beschreiben sollten, wie es mir zu dieser Zeit ging, was ich über die in ein paar Tagen beginnende Reise gedacht habe und wie es sich angefühlt hat, eine so vertraute Umgebung einfach zurückzulassen.

Ich falte das Blatt auf und beginne dann, Zeile für Zeile zu lesen. Ich lese von einem völlig anderen Leben, welches ich mitten in einer Großstadt geführt habe. Ein Leben mit normalen Schul- und Freizeiten. Ein Leben ohne Wache, Reinschiff oder Backschaft. Völlig anders. Ich lese von einem Leben, das ich seit Langem nicht mehr so gelebt habe. Ein Leben, welches ich im Oktober gegen eine andere Welt eingetauscht habe. Gegen eine Welt in einer anderen Umgebung, mit neuen Möglichkeiten und neuen Idealen.

Schließlich lege ich den Brief zur Seite, nehme mir dafür einen Stift und schlage einen Collegeblock auf. Ich denke eine Weile nach, und dann schreibe ich. Ich schreibe über die Zukunft, über die Ungewissheit und über die Rückkehr. Über die Frage, wie die nächsten, letzten zwei Etappen werden, was ich mir für diese Zeit wünsche und vor allem darüber, wie es anschließend sein wird, die neue Welt, in der ich gerade lebe, wieder gegen die Alte einzutauschen

Ich schreibe, bis die Zeit plötzlich endet. Die Zeit, die ich für einen Moment hatte, ist vorbei, der Brief muss wieder abgegeben werden. Ich falte die Zettel zusammen, auf die ich in den letzten 3 Stunden, ohne wirkliche Struktur, all diese Gedanken aufgeschrieben habe und stecke sie neben meinen anderen, alten Brief in den kleinen, blauen Umschlag. Der Brief muss wieder abgegeben werden und wahrscheinlich werde ich ihn erst in 2 ½ Monaten wieder öffnen, mir die Worte anschauen und erneut erkennen, wie schnell und stark sich alles und vor allem man selbst sich verändern kann.

KUS-Ticker

Freitag, der 11.02.2022

Mittagsposition: 15° 34,9´ N, 061° 28,2´ W

  • 07:30 Uhr: Frühstück
  • 08:15 Uhr: Vortrag von Moritz über das „Ökosystem Riff“
  • 09:00 – 10:00 Uhr: Reinschiff in allen Stationen
  • 10:00 – 12:00 Uhr: Restliche Arbeiten am Schiff
  • 12:00 Uhr: Mittagessen
  • 12:45 Uhr: Vortrag von Marlene über das Phänomen „El Nino“
  • 13:30 Uhr: Verlassen der Thor zum Solo der dritten Etappe
  • 14:00 – 17:00 Uhr: Solo
  • 18:30 Uhr: Abendessen

Samstag, der 12.02.2022

Mittagsposition: 15° 34,9´ N, 061° 28,2´ W

  • 07:30 Uhr: Frühstück
  • 09:00 – 10:00 Uhr: Reinschiff in allen Stationen
  • 09:30 – 13:00 Uhr: Unterricht
  • 13:00 Uhr: Mittagessen
  • 14:00 – 17:30 Uhr: Unterricht
  • 19:00 Uhr: Abendessen