Unerwarteter Besuch

Es begann schon am Freitag.

Da ich diese Woche ein Praktikum bei unserem Maschinisten Willi gemacht hatte, war ich heute bei der wöchentlichen Brotbackschaft dabei. Mit den Proviant- und Bootsmannpraktikanten Elisa, Mika und Gilda saß ich schon seit dem Frühstück beisammen um Zutaten zu vermischen, Teig zu kneten und ihn anschließend in den Ofen zu schieben. Zu dem Zeitpunkt noch völlig sorglos lachten und scherzten wir, bekleckerten uns mit Mehl und besprachen uns, wie wir die Brote am taktisch klügsten backen sollten, damit sich unser Zeitplan nicht mit dem geplanten Vortrag über Black Smoker überkreuzte, der um 13:00 Uhr von Franzi gehalten werden sollte. Dann erwischte es uns mehr oder weniger unvorbereitet – wenn wir ein bisschen aufmerksamer gewesen wären, wäre uns vielleicht aufgefallen, dass bereits den ganzen Tag lang alle Stammmitglieder, die die KUS-Reise schon einmal gefahren waren, etwas unruhig wirkten, als würden sie auf etwas warten.

Wir sitzen also in der Messe und lauschen gespannt dem Vortrag über heiße Unterwasserquellen. Gerade als Franzi mit einem „Vielen Dank fürs Zuhören“ endet, fängt es hinter ihr im Gang plötzlich an zu klopfen, auf einmal ist es totenstill im Raum. Alle schauen sich verwirrt an – wer sollte das hier auf der Thor, mitten auf dem Atlantik schon sein? Nach einem Moment der Stille fängt der Lärm wieder an, der dieses Mal aber weniger einem Klopfen als vielmehr einem Scheppern und Klirren ähnelt, das immer näherkommt. Noch immer spricht keiner ein Wort und alle schauen, teilweise fast ängstlich, aber auf jeden Fall gespannt, in die Richtung, aus der die Geräusche kommen. Klappernd und stapfend kommt es näher, bis wir die Ursache im Flur stehen sehen können. Ein Wesen, das in fließendes, enganliegendes, nasses Gewand gehüllt ist. Obwohl man es auf den ersten Blick für einen Menschen halten könnte, wird doch auf den zweiten eindeutig erkennbar, dass es das nicht ist, da es ein gutes Stück größer und sehniger ist als ein normaler Mensch. Dazu ist seine Haut blaugrün und hat eine leicht schuppige Struktur. Seine Augen sind tiefblau und in seinem Bart hängen Muschelreste und Algen. In der Hand, deren Finger zu allem Überfluss auch noch schwimmhautartige Häute haben, trägt es einen Stab, an dem Seetang und seltsam geformte Muscheln hängen, von denen vermutlich der Lärm kam.

Gebannt starren wir den Fremden an, der mit reiner, tiefer Stimme zu sprechen beginnt. Er stellt sich als Gesandter Neptuns vor und verkündet, dass wir Staubgeborenen nur zu Neptuns Missfallen den Atlantik befahren würden, zudem kündigt er Neptuns Besuch für den nächsten Tag an, damit dieser uns begutachten und entscheiden könne, ob wir es würdig sind, sein Reich zu durchqueren.

Nach dieser Ansage dreht sich der Fremde um und geht ohne ein weiteres Wort. Noch völlig gebannt von dieser Begegnung verharren alle zunächst still. Doch schließlich bricht der Damm des Schweigens und alle reden durcheinander. Erst als Christian, unser Kapitän, aufsteht um uns zu beruhigen, kehrt allmählich wieder Ruhe ein. Nachdem sich alle einigermaßen erholt haben, geht der gewohnte Schiffsbetrieb in Form von Wachegehen und dem Projekte-Treffen, das jeden Freitag stattfindet, seinen Gang.

Der nächste Tag startet wieder ganz gewohnt, die eine Hälfte der Schülerschaft verbringt erst zwei Stunden im Deutsch- und dann Physikunterricht, während die andere Hälfte Wache geht und Freiarbeit hat. Doch der angekündigte Besuch rückt immer näher und pünktlich um 13:00 sind alle, die nicht schon auf einer vorherigen Reise begutachtet wurden, in für so einen Besuch angemessener Bekleidung in der Messe versammelt und warten darauf, was als Nächstes passieren wird. Während wir der Dinge harren, hören wir vom Deck aus Geräusche, die unsere Anspannung nicht schrumpfen lassen: Wieder klopft, klackert und scheppert es, doch wir können nichts tun, außer darauf warten, dass wir aufgerufen werden. Da viele ihrer Anspannung Luft machen wollen, ist es sehr laut, was die Spannung weiter wachsen lässt. Und dann endlich fängt es an: Die erste Person wird nach oben gerufen, plötzlich ist es ganz still im Raum, da alle wie gebannt lauschen und hören wollen, was draußen passiert. Zu unserer Beunruhigung dringt ein entsetzter Schreckenslaut zu uns nach unten durch, doch bis auf ein paar Wortfetzen hören wir nichts. Nacheinander werden Menschen nach oben gerufen. Um die Stimmung hier unten zu lockern und die Gedanken vor der Ungewissheit abzulenken, die uns oben erwarten würde, werden Liederbücher verteilt und wir singen zusammen. Doch auch dieser Zustand hält nicht allzu lange an und wandelt sich bald in Gesprächs-, Spiele- oder Leserunden um. Nach und nach verschwinden die Leute und die Liste der Wartenden wird immer kürzer, jeder fragt sich, ob er der Nächste in der Reihe sein wird. 20 Menschen, 15 Wartende, 10 Bangende, bis wir nur noch zu fünft sind. Schließlich wird mein Name aufgerufen, es ist inzwischen fast halb fünf, und ich gehe, nach einem tiefen Atemzug, den Niedergang nach oben.

Im Nachhinein muss ich sagen, dass mich auf das, was dort auf mich wartete, nichts hätte vorbereiten können. Ich sah verschiedenste – mir völlig unbekannte – Wesen, die ich eher in einer Science-Fiction-Erzählung erwartet hätte als auf unserer Thor. Ein paar von ihnen hatten eine Ähnlichkeit mit Fischen oder Oktopoden oder sahen wie eine Kreuzung aus beidem aus. Aber die meisten von ihnen waren wohl von der Sorte, der auch unser Gesandter gestern entstammte, aber dieses Mal waren auch weibliche Exemplare dabei und ein paar von ihnen hatten eine Schwanzflosse, die der eines Fisches ähnelte. Ich kann mich nicht mehr genau daran erinnern, was mit mir gemacht wurde, aber soweit ich noch weiß, wurde ich von fliegenden Fischen in Seetang eingewickelt und von Nixen in Salzwasser getunkt, damit ich vorbereitet vor ihren Herrscher treten konnte. Das nächste, was ich sicher weiß, ist, dass Neptun mir ein Gelöbnis abgenommen hat, alle Gewässer rein und ihre Bewohner in Ehren zu halten.

Danach setzen meine Erinnerungen aus, bis zu dem Punkt, an dem ich mit meiner Wache Rein Schiff mache. Leider gibt es von dem ganzen Nachmittag auch keine Fotos. Wie oder wann Neptun mit seinem Gefolge von Bord gegangen ist, daran habe ich keinerlei Erinnerungen mehr und während ich so versuche, mich zu erinnern, komme ich auf den Gedanken, dass vielleicht alles nur Einbildung gewesen sein könnte.

KUS-Ticker

Freitag, 02.12.2022

Mittagsposition: 14°33,7’N; 037°01,8’W
Etmal: 150,7 sm
Wetter: Wolkig; Temperatur: Luft 26,5°C, Wasser 26,5°C; Wind: ESE 4

  • 13:15 Uhr Vortrag von Franzi zu „Black Smoker“
  • 13:45 Uhr Besuch des Boten von Neptun
  • 18:00 Uhr Adventsgedicht von Xaver und Jona
  • 20:00 Uhr Singabend auf dem Achterdeck

Samstag, 03.12.2022

Mittagsposition: 13°14,34’N; 038°48,27’W
Etmal: 131,7 sm
Wetter: bedeckt; Temperatur: Luft 27,5°C, Wasser 26,5°C; Wind: E 4

  • 13:00 Uhr Beginn der Atlantiktaufe
  • 18:00 Uhr Bordzeit wird eine Stunde zurückgestellt
  • 19:00 Uhr Adventskalendernachtisch von Mika und Quentin