Ende oder Anfang?
Ich schließe meine Augen. Ich spüre den Wind in meinem Gesicht der meine Hände kalt werden lässt. Unter meinen Füßen spüre ich ein letztes Mal das wacklige Fusspferd und über mir höre ich ein letztes Mal KUSis gemeinsam ein Lied singen. Auf einmal werde ich von Judith und Paula aus meinen Gedanken gerissen. Ich spüre wie wir unseren Kurs nach Backbord ändern und in die Schwentine einlaufen. In diesem Moment erinnere ich mich an unzählige wunderschöne Momente, Erfahrungen, Erlebnisse und frage mich: „War es das jetzt wirklich? Ist es jetzt wirklich vorbei? Muss ich mich heute von meiner neuen Familie und meinem neuen Zuhause verabschieden, um zu meiner alten Familie und zu meinem alten Zuhause zurückzukehren?“ Anscheinend Ja! Ich habe es immer noch nicht realisiert.
Fern an der Schwentine sind einzelne Umrisse erkennbar? Sind das Menschen? Ist da meine Familie? Langsam sind Plakate mit Aufschriften „Herzlich Willkommen“ und „Schön, dass ihr wieder da seid!“ zu sehen. Ein paar Sekunden später kann auch ich meine Familie ausmachen. In uns allen breitet sich ein mulmiges Gefühl aus. Manche fangen an zu weinen. Manche sind sprachlos. Manche scheitern an dem Versuch zu realisieren, dass es heute heißt Abschied nehmen. Aber was heißt eigentlich Abschied nehmen? Paul schrieb uns eine Nachricht dazu: „Abschied nehmen. Was nehme ich mir dabei eigentlich? Abschied nehme ich mir. Klingt irgendwie komisch. Verabschiedung. Wir scheiden voneinander. Gehen getrennte Weg, nachdem wir 189 Tage eine gemeinsame Reise begangen sind, Erlebnisse geteilt haben und einander lieb gewonnen haben.“ Diese Nachricht hat mich sehr bewegt und ich bin davon überzeugt, dass wir nicht einfach nur getrennte Wege gehen. Wir gehen diese Wege mit einmaligen gemeinsamen Momenten, mit einzigartigen Begegnungen, mit prägenden Erfahrungen und dem Wissen eine neue Familie gewonnen zu haben, die hinter uns steht und immer für uns da ist. Auch wenn wir den uns lieb gewonnenen Menschen nicht mehr jeden Tag ins Gesicht schauen können. All diese Dinge verbinden uns und machen uns zu einer einzigartigen und besonderen Gemeinschaft. Während ich über all diese Dinge nachdenke, bekomme ich gar nicht mit, wie die Menschen an der Pier uns zuwinken und ungeduldig darauf warten uns in den Arm nehmen zu können. Nun müssen wir langsam abentern und ein letztes Mal gemeinsam anlegen. Ich befinde mich immer noch in meiner kleinen weiten Welt und nehme kaum war, was um mich herum geschieht.
Wenige Minuten später umarme ich meine Familie. Dieses Wiedersehen war für uns alle einer der bewegendsten und emotionalsten Momente der letzten 6,5 Monate. Ein paar Minuten später holt uns der so vertraut gewordene Ruf des Typhons wieder zurück an Bord. Während der Abschiedszeremonie erinnern wir uns. Wir erinnern uns an die 6,5 Monate unseres Lebens, die keiner von uns jemals vergessen wird. Ich habe es immer noch nicht realisiert, dass es heute heißt Abschied nehmen. Aber in diesem Moment realisiere ich, wie dankbar ich für diese unbeschreibliche Zeit bin. DANKE!!!
Nach und nach kriegen wir unsere Seemeilenbestätigung von Christian mit einer herzlichen Umarmung ausgehändigt. Ich frage mich, ob ich mich verändert habe, ob die Menschen um mich herum sich verändert haben und was sich alles noch verändern wird. Und ich freue mich darauf dies zu erfahren, denn Veränderung bedeutet Leben. Nun rückt der Moment immer näher. Der Moment vor dem es uns allen graut. Die Reise wird traditionell mit acht glasen beendet. Schweren Herzens gehe ich Schritt für Schritt nach vorne zu unserer glänzend polierten Schiffsglocke. Mit meiner rechten Hand greife ich den Glockenstößel, atme aus und glase. 4 Doppelschläge: DING,DING… DING,DING… DING,DING… DING,DING.
Ich habe es immer noch nicht realisiert, dass es heute heißt Abschied nehmen. Alles um mich herum ist in den letzten Monaten so gewohnt und vertraut geworden. Mir fallen auf einmal zahlreiche schöne, lustige, bewegende Momente ein, die ich hier auf meinem neuen Zuhause, der Thor Heyerdahl, erleben durfte. Ich frage mich: „Ist es jetzt vorbei?“. Nein. Ich habe zwar immer noch nicht realisiert, dass ich meine neue Familie nicht mehr jeden Tag in die Augen schauen kann, aber ich vermute dafür werde ich auch noch ein paar Tage brauchen. Aber ich gehe mit dem Wissen über die Gangway, dass es noch lange nicht vorbei ist. Ich gehe mit einer neuen Familie, einem neuen Zuhause, einzigartigen Begegnungen, wunderschönen, prägenden und gewiss auch lehrreichen Momenten. Ich gehe mit Etwas über die Gangway in ein neues Leben, dass mit keinem Geld der Welt zu bezahlen ist. Diesem Etwas kann man keinen Namen geben. Dieses Etwas verstehen nur diejenigen, die bei diesem Etwas dabei waren und es mitgestaltet haben. Nun gehen wir in einen neuen Abschnitt unseres Lebens. Uns stehen alle Türen offen. Nun liegt es an uns, was wir daraus machen.