Ein göttlicher Besuch

Datum: 30.11.2025
Mittagsposition: 15°36,9‘N; 047°30,6’W
Etmal: 82 sm
Wetter: Lufttemperatur: 28 °C, Wassertemperatur: 28,5 °C, Windrichtung und Stärke: NEzE 3

Ein aufmerksamer Leser unserer Reiseblogs wird wahrscheinlich schon gemerkt haben, dass wir bereits seit über 50 Tagen über die Meere schippern. Und ein noch aufmerksamerer Beobachter weiß eventuell auch, dass wir mit guten 5,5 Knoten in Richtung Westen düsen. Längengrad nach Längengrad wird zurückgelegt und ehe wir es uns versehen, segelt unsere schöne Thor zwischen dem 39. und dem 40. Längengrad – Zeit für einen göttlichen Besuch.

Am Freitag, den 28.11., sitzt Unterrichtsgruppe B komplett unwissend und noch leicht verschlafen in der Messe, als unser Maschinist Jörg mit einer Oscar-reifen Vorstellung in den Unterricht platzt. Ein hoch offizieller Brief ist auf unser Schiff gelangt, in dem der Meeresgott Neptun ankündigt, uns persönlich einen Besuch abstatten zu wollen. Es ist helle Aufregung an Bord. Wieso bitte sollte ein Gott uns besuchen? Und wieso mitten auf dem Ozean? Doch zum Glück werden wir beim Weiterlesen der Schrift aufgeklärt. Wir, die Staubgeborenen und Landmenschen, müssen uns einer sagenumwobenen Taufe stellen. Und zu dieser Feierlichkeit kommen der Meeresgott selbst, seine Gemahlin Thetis und Teile ihres Hofstaates an Bord. Denn jeder, der die gefährliche Reise über den Atlantik antritt und alle damit verknüpften Gefahren übersteht, erhält das Privileg, den Segen Neptuns zu erhalten.

Am nächsten Morgen ist eine zwiespältige Stimmung an Bord. Einerseits haben alle eine freudige, gespannte Erwartung auf die bald anstehende Zeremonie, andererseits liegt auch eine gewisse Ehrfurcht in der Luft. Denn weder in unserer Bibliothek noch in einem anderen Buch an Bord findet man auch nur die kleinste Information über diese Atlantiktaufe. Unsere einzige Quelle: Zeitzeugen einer früheren Segnung. Aber versucht mal, Informationen aus unseren Stammis zu kriegen. Als kleine Vorwarnung: Wenn es um Überraschungen geht, kriegt man tendenziell eher wenig raus.
Demzufolge brodelt die Gerüchteküche: Hier war unsere Last gesperrt, da wurden merkwürdige Gerüche wahrgenommen. Jeder hat etwas beizutragen und doch weiß niemand was Genaues.

Samstag 13:00 Uhr: Alle Staubgeborenen versammeln sich in der Messe. Ab jetzt gibt es keinen Weg zurück mehr. Der Herr aller Bäche, Flüsse, Seen und Ozeane ist auf unserem Schiff eingetroffen. Unsere Theorien werden immer wilder, je länger wir in der Messe sitzen. Denn nicht nur das lange Warten stachelt unsere Fantasie an, auch die fehlende Luftzufuhr sorgt für rege Schweißbäche. Doch dieser Zustand führt keinesfalls zu schlechter Stimmung, im Gegenteil: Bald schon werden die ersten Seemannslieder und Shantys angestimmt und auch die Bordgitarre wird ausgepackt. Eine fast normale Atmosphäre, die jedoch bald unterbrochen wird. Lauter Lärm vom Hauptdeck. Getrampel, Geschrei, Gejaule. In der Messe ist es totenstill. Was bitte geht da oben vor? Und dann erklingt die Stimme. Tief und laut und respekteinflößend, aber gleichzeitig erfahren und einfühlsam. Alle lauschen aufmerksam der Stimme, die nur einen Namen nennt: „Theresa“. Die Köpfe schießen zu ihr herum. Sie ist die erste, die sich der Taufe an Deck stellen muss. Und tapfer, wie sie ist, steigt sie unter Beifall den Niedergang hoch. Getrampel, Geschrei, Gejaule. Dann Stille. Der nächste Name. Wieder Geschrei und wieder Stille. So geht es weiter, Staubgeborener nach Staubgeborener verlässt die Messe, um sich den Segen Neptuns einzuholen.

Und dann kommt mein Name. Wieder Applaus. Ich erhebe mich wie in Trance. Meine Gedanken rasen. „Wieso tue ich mir so was an?“ „Und was passiert gleich mit mir?“ Ich steige den Niedergang hoch. Im selben Moment wie frische Luft meine Lunge füllt, strahlt mir warmes Sonnenlicht ins Gesicht. Ich muss wegen des plötzlichen Helligkeitswechsels blinzeln und pralle gegen eine harte Wand. …

Mein Denkvermögen setzt erst wieder ein, als ich mich frisch geduscht am Schanzkleid wiederfinde – zwischen anderen Getauften lachend und anfeuernd. Immer mehr Landmenschen kommen an Deck. Und immer mehr stellen sich Neptun und erhalten schließlich ihren Atlantiknamen. Und je länger die Zeremonie dauert, die nur auserwählten Abenteurern zu Teil wird, desto ausgelassener wird die Stimmung. Und wieder einmal geht ein Samstag auf der Thor fröhlich seiner Wege.

KUS-Ticker

Samstag, 29.11.25

  • 13:00-15:30 Uhr: Atlantiktaufe
  • 17:00 Uhr: Zeitumstellung auf -3 Stunden UTC
  • 16:00 Uhr: Besanschot an

Sonntag, 30.11.25

  • 17:00 Uhr: Weihnachtsmarkt