Rückblick
Vor genau sechs Monaten waren wir am selben Ort und befanden uns doch vollkommen woanders.
Wir hatten gerade den Nord-Ostsee-Kanal durchquert und warteten kurz vor der Schleuse auf unsere Durchfahrt in die Nordsee. Wenn ich daran denke, was uns noch erwarten sollte, bekomme ich eine Gänsehaut. Klar, wir hatten uns viele Male ausgemalt, was wir erleben würden, monatelang nur daran gedacht, wo wir hinfahren würden. Doch wenn ich es mir so überlege, hatten wir keine Ahnung, was uns erwartet.
Auch jetzt liegen wir hier, kurz vor der Schleuse. In diesem Moment, ganze 183 Tage später, sitze ich in meiner Koje, die mit Fotos von den Menschen, die wir in fünf Tagen wiedersehen werden, eingerichtet ist. Es sieht so vertraut aus, es ist so alltäglich geworden, hier zu sein. Wenn ich nach draußen gehe, wärmt mich die Sonne; das war letztes Mal anders: Ein grauer Himmel empfing uns zu Anfang der Reise. Ansonsten haben wir den gleichen Ausblick auf die Schleuse, riesige Containerschiffe und das Städtchen Brunsbüttel. Aber das Gefühl, hier zu sein, ist ein komplett anderes. Ich denke an all die Momente, die uns jeden Tag verändert und geprägt haben, an all die Gefühle und daran, wie unglaublich viel wir gelernt haben. Wie könnten wir uns jetzt noch fühlen wie davor?
Aber ich muss auch an die Momente denken, die ich längst vergessen habe, die in meinem Tagebuch unerwähnt geblieben sind und die nur für ein paar Minuten oder Sekunden existierten.
Oder an die, die ich vergessen werde, jetzt, morgen oder irgendwann, so sehr ich sie auch festhalten will. Doch egal, wie sehr ich es versuche, es wird nichts bringen: Die Erinnerungen verändern sich, verschwimmen und verschwinden. Wie oft haben wir uns gefragt, wie wir diesen Moment, egal ob unglaublich oder winzig erscheinend, für immer behalten können: Einen Sonnenaufgang, eine Welle oder ein Lächeln, ein Glücksgefühl oder auch nur das Glitzern in den Augen der anderen? Wie viele Male sind wir daran gescheitert, die Zeit anzuhalten? Manchmal haben sich zwei Minuten unendlich angefühlt und waren doch plötzlich vorbei. Manchmal waren wir verloren im Moment, gefangen im Abenteuer oder gefesselt vom Glück, und doch wurden wir früher oder später wieder in die Realität zurückgeholt. Dass die Zeit vergeht, lernten wir im Laufe der Reise immer wieder.
Das Besondere an Glück ist, dass es nicht immer währt: Welche Bedeutung hätte ein Lächeln, gäbe es keine Tränen? Welche Bedeutung hätte diese Reise, wäre sie unendlich? Dadurch, dass die Ankunft immer näher rückt und uns langsam bewusst wird, dass dieses halbe Jahr viel zu bald endet, gewinnen diese letzten Tage einen ganz besonderen Wert. Obwohl wir viel zu tun haben mit Schiffsarbeiten und Vorbereitungen und uns kaum Zeit für anderes bleibt, nutzen und genießen wir jeden Moment, den wir miteinander verbringen können. Uns allen wird nur zu sehr klar, wie wertvoll die Thor, unsere ganze Familie hier, für uns geworden ist.
Aber auch wenn uns die Zeit wegläuft und der ein oder andere beginnt, jetzt schon der gemeinsamen Reise nachzutrauern und auch wenn wir die schönsten Tage irgendwann vergessen werden, eines werde ich sicher immer wissen: Ich habe gelebt.
Ich habe gelächelt, gelacht, Freundschaften geschlossen, vertieft und die anderen KUSis jeden Tag neu lieben gelernt; ich habe geweint, bin verzweifelt und habe die 16 Stunden Backschaft doch geschafft; musste für Tests lernen, stundenlang Schiffsarbeiten machen und anstrengende Wachen durchhalten, konnte im Nachhinein aber stolz darauf schauen, wie viel Verantwortung ich übernommen habe und wie viel Spaß es letztendlich gemacht hat; ich war wütend oder genervt und hatte gleich darauf schon wieder den größten Lachkrampf; habe gefroren, bin an meine Grenzen gestoßen und wollte fast aufgeben, stand am Ende aber trotzdem auf der Spitze des höchsten Bergs von Portugal. Ich bin traurig, weil die Reise endet und keine vergleichbare Zeit zurückkehren wird und doch darf ich glücklich sein, weil ich auf so viel zurückblicken kann und weil auf dieses Ende wieder ein Anfang folgen wird.
Und besonders dieses Eine werde ich, tief im Inneren, in meinem Herzen, immer wissen: Ich habe gelebt.
KUS-Ticker
Montag, 17.04.2023
Mittagsposition: 53°50,9’N; 008°58,3’E
Etmal: 48,4 sm
Wetter: leicht windig; Temperatur: Luft 14°C, Wasser 10°C; Wind: NE 1
- 05:00 Uhr allgemeines Wecken
- 05:30 Uhr Signal K und Auslaufen Helgoland
- 13:30 Uhr Erreichen der Schleuse in Brunsbüttel
- 16:30 Uhr letztes Projektetreffen der Reise
Dienstag, 18.04.2023
Mittagsposition: Seglerdalben Brunsbüttel
Etmal: 8,7 sm
Wetter: leicht windig; Temperatur: Luft 9°C, Wasser 8°C; Wind: NNE 1
- 07:00 Uhr allgemeines Wecken
- 08:15 Uhr Beginn Schiffsarbeiten zur Vorbereitung fürs Einlaufen
- 17:30 Uhr Reinschiff
- 19:00 Uhr Landgang in Brunsbüttel