Unverzerrt, neu, echt
Datum: 16.10.2020
Position: Maria Wendtorf
Überall Gepäck, Gesichter, Stimmen und über allem das Heulen des Windes im dunklen Hafen. Erschöpft, aber aufgeregt waren wir aus dem Bus gestiegen und nun türmten sich Berge von Gepäck vor uns auf. Die Flut an Eindrücken ließ unsere Müdigkeit verfliegen und täuschte darüber hinweg, dass manche von uns schon seit vier Uhr auf den Beinen waren. Noch vor wenigen Stunden hatten wir uns von unseren Familien verabschiedet, mit den letzten Freunden telefoniert und zum hundertsten Mal das Gepäck kontrolliert. Ein seltsames Gefühl, Familie, Freunde und alles Vertraute für so eine lange Zeit zurückzulassen. Alle waren aufgekratzt und liefen etwas hektisch durcheinander. Doch trotz der anfänglichen Aufregung, in der nicht wenige um ihren Seesack fürchteten, schafften wir es, alles in Haufen zu ordnen. Ein organisiertes Chaos.
Die Gesichter der anderen waren uns fremd und trotzdem vertraut. Wir hatten uns coronabedingt in den letzten Monaten nur in Videokonferenzen getroffen. In unzähligen Stunden vor dem Laptop hatten wir versucht, uns kennenzulernen, uns gegenseitig Tipps für die Vorbereitungen gegeben und gemeinsam darum gebangt, ob unsere Reise trotz Corona stattfinden würde. Und doch ist es ein ganz anderes Gefühl, wirklich vor diesen Menschen zu stehen, in ihre Augen zu sehen, ihre Stimmen unverzerrt zu hören und ihre Gesichter klar zu erkennen. Keine Überbelichtung, keine Internetprobleme, keine Störgeräusche. Nur ein Mensch.
Es ist schwer vorstellbar und fühlt sich fast schon surreal an, dass es diese Menschen sind, mit denen man das nächste halbe Jahr verbringen wird. Wir werden gemeinsam kochen, lernen und leben. Wir werden gemeinsam Stürme überstehen, neue Länder erkunden und Probleme bewältigen. Das größte Abenteuer unseres Lebens steht uns bevor. Wenn wir im April von Bord gehen, werden wir hoffentlich eine Gemeinschaft sein. Eine Crew. Fast wie eine zweite Familie. Eine Mannschaft, die zusammengewachsen ist und zusammenhält. In der sich jeder auf jeden verlassen kann und man füreinander einsteht. Von jetzt an wird die Mannschaft unsere Familie und die Thor unser Zuhause sein. Aber das können wir noch nicht so ganz fassen. Schon lange bereiten wir uns auf die Reise vor. Immer präsent, vom Schreiben der Bewerbung bis zum Packen, die Vorfreude ließ uns nie los.
Und jetzt soll es wirklich losgehen? Ja, die Werftzeit hat begonnen, die Vorbereitungen laufen auf Hochtouren und in wenigen Tagen legen wir endlich ab. Wie wird es sein, auf dem Schiff zu leben, über das wir schon seit so langer Zeit reden? Wie wird es sein, an der Reling zu stehen und Delfine oder Wale zu beobachten, die an uns vorbeiziehen? Wie wird es sein, hoch oben im Rigg zu sitzen, den Wind in den Haaren zu spüren und bei leichtem Seegang die rote Sonne am Horizont im Meer versinken zu sehen? Diese Fragen stellen wir uns schon lange. Wir sind endlich kurz davor, Antworten zu finden.