Wie eine Reise beginnt

Ich lebte ein langweiliges Leben in Gesellschaft vieler meiner Brüder und Schwestern, gefangen in einem Sack. Irgendwann wurden wir irgendwo auf einem staubigen Acker geerntet und dann hierher gebracht, in den Makromarkt auf Teneriffa. Mein Regal ist eines der höchsten im Markt, sodass ich einen ziemlich guten Überblick über das Geschehen dort unten habe. Nur leider macht das mein Dasein auch recht eintönig und einsam, denn so hoch oben kommt keiner der Kunden auf die Idee, seine Lebensmittel einzukaufen, selbst hier in einem solch großen Markt, der extra darauf ausgerichtet ist, die Einkäufe großer Firmen zu bewältigen.

Ich dachte immer, mein Makromarkt sei das Größte. Es stellte sich aber heraus, dass ich mich gleich in zweierlei Hinsicht getäuscht hatte. Nämlich dann, als unter mir zwei junge Frauen auftauchten, und nach 50 kg Haferflocken fragten. Die lagerten genau gegenüber von mir und ich kann euch sagen: 50kg waren das nicht. Auch der Mitarbeiter, den die beiden ansprachen, kratzte sich nur ratlos am Kopf und verdeutlichte ihnen in äußerst schnell gesprochenem Spanisch (Ich glaube nicht, dass sie alles verstanden haben), dass diese geschätzt 50 Packungen, die die beiden dann in ihren Einkaufswagen schaufelten, alles seien, was sie gelagert hatten. Von wegen, mein Makromarkt ist das Größte. Ich war enttäuscht.

Die ältere der beiden, die jüngere nannte sie Lenya, schaute auf ihrem Einkaufszettel nach, blickte nach oben zu mir und meinen Geschwistern und rief: „Clara, kommst du da dran? Wir brauchen 210kg Kartoffeln!“ Ich kann gar nicht beschreiben, wie aufgeregt ich war, als ich meinen Namen hörte. Ich würde die weite Welt bereisen und endlich gekauft werden. Clara stellte sich auf die Zehenspitzen und zerrte an dem ersten Kartoffelsack. Ungeduldig wartete ich, bis sie meinen Sack erwischte und rief ihr so laut ich konnte entgegen, wie sehr ich mich freute und was ich doch für ein großes Glück hatte, ENDLICH gekauft zu werden. Was sie denn so in ihrer Freizeit mache. Sie hörte mich nicht.

Ich landete unsanft auf dem Metallgitter des Einkaufswagens, wurde dann noch etwas eingequetscht, als weitere Dutzend Säcke dazukamen, und dann ging es auch schon los auf meine erste Spazierfahrt durch den Makromarkt. Auf mich wirkte alles wie neu, obwohl ich es ja schon lange von oben betrachtet hatte. Von unten und von einem Wagen aus sieht alles noch viel größer aus. Wie hoch die Regale doch tatsächlich sind…!

Leider konnte ich den Markt nicht ganz erkunden, denn beim Toastregal wurde ich regelrecht begraben unter 20 Maxipackungen Toast. Das Letzte, was ich sah, war Claras kritischer Blick, als sie die Packungen zählte und merkte, dass auch hier nur durch zusammenschustern der verschiedenen Sorten eine Anzahl von 20 erreicht werden könnte.

So im Dunkeln und vom Schieben des Wagens wohlig geschaukelt muss ich wohl eingenickt sein, denn als ich wieder erwachte, öffnete sich gerade die Kofferraumtür des Mietwagens, in dem ich und meine Geschwister mit ganz vielen anderen Lebensmitteln gestaut waren. Das helle Tageslicht blendete mich, sodass ich erst kurze Zeit später, als ich schon auf einer blauen Plane am Boden lag, bemerkte, dass ich an einer Pier angekommen war. Rechts neben mir war ein wunderschönes Traditionssegelschiff vertäut, von dem viele fleißige Jugendliche schon herbeigeströmt waren und eine Menschenkette gebildet hatten. Wie sich herausstellte, sollten aber erst ganz viele zu kühlende Lebensmittel wie Fleisch und Käse an Bord gebracht werden. Ganz oft fielen die Worte „In die Last damit“ oder „Warschau schwer. Das muss in die Kühllast“ und „Nein, in der Last ist kein Platz mehr, packt die Sachen in die Messe“. Ich fand das unfair, weil ich auch endlich mein neues zu Hause kennenlernen wollte. Und das sollte auch noch einen ganzen Tag lang dauern, so lange brauchte es, all die Lebensmittel an Bord zu bringen.

Nachmittags hatte sich der Trubel gelegt. Die meisten Schülerinnen und Schüler waren unter Deck verschwunden, um beim Verstauen des Proviants zu helfen. Nur noch ein paar Leute waren mit dem Bootsmann an der Pier bei mir mit Schiffsarbeiten an den Festmacherleinen beschäftigt. Da hörte ich wieder Claras Stimme: „Hey Emma, da sind noch voll viele Kartoffeln, die müssen doch auch alle noch rein. Hilfst du mir?“

„Das ist ja Wahnsinn. Zwei volle Tage haben wir jetzt schon proviantiert und es kommt immer noch Essen. Aber ja, klar.“

Die beiden Mädchen kamen über die Gangway an Land und begutachteten den Stapel an Kartoffelsäcken. Jede schnappte sich einen Sack und ich weiß nicht, warum, aber die beiden kamen auf die Idee, dass wir eine geniale Trainingseinheit darstellten. Von da an wurde mit jedem Sack, der auf das Schiff geschleppt wurde, eine Sportübung durchgeführt. Erst waren es nur 10 Kniebeugen mit Kartoffelsack im Arm, darauf folgte die Steigerung, 10 Kniebeugen mit Kartoffelsack im Arm mit anschließendem Kartoffelsackstemmen über den Kopf. Ich war in einem der beiden letzten Säcke, die sich Emma und Clara auf den Rücken legten und eine Runde Unterarmstütz machten. Ich fühlte mich zwar nicht mehr ganz ernst genommen, aber die beiden hatten ihren Spaß, ebenso wie alle an Bord, die das Spektakel kurz beobachteten. Ich versuchte es nochmal mit meinen eindringlichen Rufen an Clara, aber die war viel zu sehr damit beschäftigt, mich und meinen Sack an Bord zu tragen und in eine Menschenkette einzugliedern, die mich in die Last brachte, wo ich vor der Werkbank liegen blieb. Hier merkte man eindeutig, dass nicht nur die Haferflocken, Toast und eben Kartoffeln in rauen Mengen eingekauft worden waren. Mich umgaben deckenhohe Kistenstapel mit allerlei Essen, das von ein paar Jugendlichen und Erwachsenen sortiert und verstaut wurde. Einmal musste ich meinen Platz kurz verlassen, als der Bootsmann ein Werkzeug oder so holen musste. Ich lag nämlich genau vor der Schublade. Das Geniale daran war, dass ich somit einem Gespräch lauschen konnte, das alles, was ich heute bisher erlebt hatte, übertraf. Ich hörte in etwa Folgendes: „Das ist so viel Proviant, da müssen wir wohl nur noch wenig auf Kap Verde dazukaufen. Vielleicht etwas Obst, aber der Rest dürfte sogar bis zu den Azoren reichen.“

Was für ausgezeichnete Neuigkeiten! Ich würde zu See fahren und bis nach Afrika segeln! Von wegen, der Makromarkt war das Größte. Ich würde berühmt werden: Die Kartoffel, die die Welt bereiste. Hier unten in der Last war es warm, sodass ich gleich einschlief und vom Segeln träumte, auch wenn ich noch einige Male aufschreckte, weil bis um 11 Uhr in der Nacht noch verstaut und in Unter- bzw. Unterunterkojen gepackt wurde. Als ich wieder aufwachte, spürte ich die Wellen gegen den Rumpf schlagen und das Schiff wiegte sich leicht in den Wogen. Es ging los.

KUS-Ticker

18.12.2020

Mittagsposition: Hafen Santa Cruz de Tenerife

  • Vormittag: Reinschiff, Wachtreffen in den neuen Wachen
  • 15:00 Ablegen in Santa Cruz de Tenerife

19.12.2020

Mittagsposition: Anker vor Los Christianos

  • 02:00 Ankersetzen vor Los Christianos
  • Vormittag: Reinschiff
  • 14:00 – 15:30: Baden vor Anker mit Schnorchel (Boden in Sicht) und Sprung vom Klüverbaum
  • 16:00 Theorieeinheit Dinghiführerschein bei Detlef
  • 17:30 Ankunft von Wilko (Steuermann) an Bord
  • 20:00 Modeschau der Bord-Boutique
  • 20:15 Kinoabend (Film: Into the wild)