Outward Bound
Wir liegen des Nachts im Nordostseekanal. Ringsum reflektiert das braune Wasser hartes, weißes Licht deutscher Straßenlaternen, europäischer Zivilisation. Es ist ruhig. Keine Hauptmaschine mit ihrem vertrauten Rhythmus, keine Fahrwache mit ihren gedämpften Kommandos, weder Wellen noch Seegang. Fast höhnisch still liegt die Thor im Wasser, während uns selbst gerade so viel bewegt.
Mein Blick schweift über die gekräuselte Oberfläche des Brackwassers, meine Gedanken durchstreifen die letzten Monate. Vor meinem inneren Auge blitzen Erinnerungen auf. Das letzte Mal, als wir hier waren, war alles neu. Wir passierten den Nordostseekanal und erprobten uns das erste Mal als Seemannschaft. Damals traf die Strömung der Elbe auf die Dünung der Nordsee und ließ das Meer regelrecht brodeln. Ohne richtig zu wissen, was unruhiger Seegang bedeutet, liefen wir voll Tatendrang in Richtung Helgoland. Wie uns die See neu war, so kannten wir uns gegenseitig noch nicht richtig. Ich war ein Lehrer, umgeben von Schülerinnen und Schülern. Gemeinsam bewegten wir uns aufs Ungewisse zu. Neben der Aufregung ob der Reise beschäftigten mich natürlich auch pädagogische Fragen. Wie würde sich das Zusammenleben auf das Verhältnis zwischen Lehrer- und Schülerschaft auswirken?
Kiel, Mitte Oktober 2020:
Vor etwa sechs Monaten steigen in Maria-Wendtdorf 34 Schülerinnen und Schüler aus einem Bus, der zuvor einmal quer durch Deutschland getourt ist. Die Seesäcke sind größer als so mancher Jugendliche und den meisten steht eine ordentliche Portion Respekt vor dem Ungewissen ins Gesicht geschrieben Was erwartet mich auf der Reise? Werde ich Anschluss finden? Ist dieses Projekt wirklich das richtige für mich? Keiner kann in diesem Moment erahnen, welches Potenzial sich hinter so manchem erwartungsvollem Gesicht verbirgt. Wenige Tage später tritt die Thor ihr Abenteuer an, weg von Corona-Deutschland, bekannten Abläufen, Freunden und Familie; auf in neue Gewässer, unbekannte Welten und immer Richtung Horizont. Beim Auslaufen aus Kiel setzen viele ihre Füße das erste Mal auf das Deck eines Segelschiffes und halten irgendeinen Tampen in den Händen, von dem sie weder Funktion noch Namen wissen. Ehe sie es sich versehen, gerät alles Bekannte außer Blickweite und das Klassenzimmer unter Segel nimmt seinen Lauf.
Vor der Reise dachte ich, dass es schwierig sein würde, ein professionelles Verhältnis aus Nähe und Distanz zu finden. Heute sehe ich, wie naiv dieser Blick auf das Projekt war, denn dem steten Rollenwechsel sind nicht nur wir unterworfen. Auch die Schülerinnen und Schüler treten in verschiedenen Situationen in unterschiedlichen Funktionen auf. Vor allem in so manchem nautischen Bereich erreichten sie schnell ein höheres Niveau als wir Erwachsene. So klettern wir beispielsweise als Leichtmatrosen gemeinsam am Schiff herum und packen Segel. Gewandt, mit Umsicht und mit Selbstbewusstsein wird mir gesagt, was ich zu tun habe. Gemeinsam zerren wir am Segeltuch, klopfen und stopfen es geübt zusammen. Dabei ist es mittlerweile so selbstverständlich, dass wir als Team agieren, der Erwachsene mit dem Jugendlichen. Die Bedeutung des Alters tritt in den Hintergrund, und ein paar Stunden nach der gemeinsamen Arbeit sitzen dieselben Kids vor mir auf den Bänken und schreiben mit, während ich an der Tafel stehe. Oder wir schrubben zusammen die Toiletten, treffen uns Zähne putzend und noch verschlafen im Badezimmer oder halten uns die Haare aus dem Gesicht, während wir uns aufgrund von Seekrankheit übergeben.
Ja, Nähe und Distanz ist natürlich nach wie vor ein Thema, doch es wäre naiv zu fordern, hier ein professionelles Verhältnis zu erlangen. Wir leben auf engem Raum zusammen und erleben einander und uns selbst in so vielen neuen Situationen, wenn es uns gut geht und auch, wenn wir schlechte Tage haben. Da kann Nähe gar nicht vermieden werden, und das ist auch gut so. Vielmehr geht es darum, sich in der jeweiligen Situation seiner Rolle bewusst zu sein und diese selbstverständlich einzunehmen. Das gilt für uns ebenso wie für die Schülerinnen und Schüler, und so leben wir in einer Gemeinschaft zusammen, die ich so noch nie erlebt habe. Manche verwenden das Wort Kus-Familie, und ich kann verstehen, dass sie diesen Begriff wählen, vermutlich vor allem aus Mangel einer geeigneten Alternative. Aber eine echte Familie ist es nicht, was wir hier aufgebaut haben, zumindest nicht für mich. Versteht mich nicht falsch, es ist nicht weniger bedeutsam. Es ist bloß anders. Wir leben hier in einer großen Gemeinschaft, wie es vor der Erfindung des Konzepts der Kleinfamilie für uns Menschen üblich war, und ich merke, wie gut uns sozialen Wesen das tut.
Wir sind für einander verantwortlich. Unser Wirken hat direkte Auswirkung auf das Gemeinwohl und erhält so natürliche Bedeutung. Während ich von meiner Arbeit in der Schule gewohnt bin, die Relevanz eines umsichtigen Miteinanders zu predigen, wird hier täglich offenbar, welchen Einfluss wir aufeinander haben. Das ist eine grandiose Chance, zeitgleich aber auch eine beachtliche Herausforderung. Jedes Handeln hat Vorbildcharakter. Zeige ich meinen Mitmenschen Respekt, ändert sich der allgemeine Umgangston an Bord. Entkommt mir eine unbedachte Äußerung, und sei es nach einer langen Nachtwache in der Kälte, zieht auch dieser Impuls seine Kreise und vergiftet das Klima.
Englischer Kanal, 16. April 2021, 15:30:
Zum dritten Mal legt der weitgereiste Kapitän sein Lebenswerk in die Hände von 34 Jugendlichen. Ein kurzer Handschlag mit der Schülerkapitänin besiegelt die Übergabe. Durch die Erfahrungen der letzten Monate wird das Schiff allerdings keineswegs an einen Haufen Leichtmatrosen übergeben. Hinter uns liegen über 8000 Seemeilen, in denen die Jugendlichen alles über Nautik und Segeln in sich aufgesaugt haben und sich bereits mehrfach beweisen durften. Von Norddeutschland ging es durch den englischen Kanal zu den Kanaren und anschließend auf die sonnigen Kapverden. Auf dem Weg zu den Azoren trotzten wir unserem ersten Sturm und in Richtung Heimat mussten wir, wie schon zu Beginn der Reise, viel gegen den Wind ankämpfen. Wir sprechen bewusst von wir, da uns jede einzelne Schülerin, jeder Schüler ans Herz gewachsen ist und wir eine Einheit geworden sind. Sie genießen unser volles Vertrauen im nautischen Bereich. Die letzten beiden Schiffsübergaben haben gezeigt, wie schnell die Jugendlichen in diesem Projekt Wissen aufsaugen und sofort praktisch umsetzen und verinnerlichen. Im Voraus haben wir uns sowas ähnliches unter Erlebnispädagogik vorgestellt, die Entwicklung eines Jugendlichen jeden Tag über mehrere Monate mit anzusehen ist allerdings noch einmal eine andere Hausnummer. Verantwortung bei einer Schiffsübergabe zu übernehmen, egal ob als Deckshand oder als Kapitän, das bedeutet gemeinsam 24 Stunden am Tag ein 50 Meter langes Segelschiff zu manövrieren und gleichzeitig mit 49 anderen Personen auf diesem zu leben. Und auch wenn es natürlich immer Dinge zu verbessern gibt, können wir bereits eine klare Prognose für die laufende Schiffsübergabe geben. Ihr macht das sicherlich ganz wunderbar!
Man sagt, die Schülerschaft sei ein Spiegel des Stamms. Ich blicke auf den künstlichen Kanal, die natriumgelben und LED-weißen Reflexionen der Straßenlaternen und führe mir die Entwicklung der Schülerinnen und Schüler vor Augen. Zu dem Gefühlgewitter in meinem Bauch gesellt sich nun auch Stolz. Stolz auf die eigenen Errungenschaften und gemeisterten Herausforderungen, aber vor allem Stolz auf die Schülerinnen und Schüler und die Schritte, die sie gemacht haben. Und Bedauern in Anbetracht des bevorstehenden Abschieds. Immer wieder begegneten mir über den Tag verteilt Schülerinnen und Schüler mit Tränen in den Augen. Und plötzlich stehen auch wir Lehrerinnen und Lehrer vor einer neuen Herausforderung, was die eigene Rolle betrifft. Wir sind selbst von Wehmut betroffen, von Vorfreude auf die Rückkehr, und müssen zeitgleich bedacht bleiben und die letzten Tage strukturieren, den Schülerinnen und Schülern tröstende Schultern anbieten. Ein letztes Mal wird Nähe und Distanz Thema und die Frage, welche Rolle wir in den letzten Stunden zu welchen Anteilen einnehmen. Hier liegen wir im Wasser und während die Stille um uns herum brüllend laut surrt, kommen meine Gedanken schön langsam zur Ruhe. Wir sind als Bordgemeinschaft nah zusammengewachsen. Nun folgt der nächste, genauso wichtige Lernschritt, für die Schülerinnen und Schüler wie für mich selbst. Es gilt, Abschied zu üben und für die kommenden Wochen Distanz aufzubauen, und sei es auch nur räumlich, bis wir uns beim ersten Nachtreffen wiedersehen werden.
Brunsbüttel, 20.04.2021:
Mit dem Anlegen an den Seglerdalben des Nordostseekanals scheint es, als würde nicht nur unsere Schiffsübergabe, sondern auch unser sechsmonatiges Abenteuer zu Ende gehen. Bevor unsere Schülerkapitänin die Thor zurück in die Hände des Kapitäns gibt, ehrt die Projektleitung noch einmal jede Position mit einem Applaus. Aber der frenetische Jubel der letzten beiden Schiffsübergaben bleibt aus. Verhaltenes Klatschen. Dann Ruhe. Die Schiffsführung hat einen exzellenten Job gemacht, die Gemeinschaft an Bord war trotz dauerhaften Motorens und Kälte fantastisch, dennoch besinnen sich die Schülerinnen und Schüler nicht auf das, was sie die letzten vier Tage, ja eigentlich die letzten sechs Monate erreicht haben. Woran liegt das? Der Blick geht nach vorne und jedem ist klar, dass unsere Reise soeben ein Ende nimmt. Am Abend haben wir mit Ruth ein Zoom-Meeting in der Messe. Dabei erhalten wir Informationen über die aktuelle politische Lage, Coronabeschränkungen und vor allem den Ablauf des Einlauftages in Kiel. Mehrmals bricht die Internetverbindung ab – Willkommen zurück in Deutschland! Während der Konferenz gehen die Blicke nach unten und ich blicke in ausdruckslose Gesichter. Und da ist sie wieder. Die Angst vor dem Ungewissen. Was erwartet mich zu Hause? Wie wird das Wiedersehen mit Familie und Freunden? Habe ich mich verändert? Ja, ihr habt euch verändert! Und darauf könnt ihr stolz sein. Ihr seid nicht nur Seefahrer geworden, ihr habt euch auch zu wundervollen Menschen entwickelt. Wer sich auf See behaupten kann, für den ist der Alltag in Deutschland keine ernsthafte Herausforderung – trotz Coronawahnsinn! Behaltet die Reise einfach als eine wunderschöne Zeit in Erinnerung. Die Erfahrungen und all die neuen Freundschaften gehen mit dem Verlassen des Schiffs keineswegs verloren. Wir wünschen euch alles Gute in euerer Zukunft, bleibt wie ihr seid und behaltet euch immer eine Hand breit Wasser unter dem Kiel. Wir sind stolz auf euch.