Menschen zwischen den Kanaren und Afrika, worüber niemand spricht
Einen Blog schreiben, das hört sich eigentlich ziemlich einfach an. Ich könnte jetzt darüber schreiben, wie schön der Sonnenaufgang an der sonnigen Seite von Teneriffa war oder wie uns heute Nacht ein Schwall Wasser durchs Oberlicht kam und unser Zimmer etwas geflutet hat. Alles ganz lustige Themen für einen Blogeintrag.
Aber ich werde heute über die Flüchtlingskrise auf den Kanaren schreiben. Genauer gesagt über Tod und Verzweiflung. Denn diese zwei (oder auch drei) Wörter, sind Synonyme dafür, was im Augenblick und schon seit mehreren Jahren auf dem Abschnitt des Atlantiks passiert, der zwischen den Kanaren und Afrika liegt. Es geht um tausende Menschen, die sich jedes Jahr auf eine lebensgefährliche Reise über den Atlantik begeben. Viele kommen an, viele nicht. Jetzt sitze ich hier, ein kleiner Junge, in der kleinen Bibliothek, auf einem nicht ganz so kleinen Schiff, auf einem ewigen Ozean und weiß nicht, was ich schreiben soll. Eigentlich weiß ich ganz genau, was ich schreiben will, denn ich habe mich für mein Referat sehr ausführlich mit der Flüchtlingskrise auf den Kanaren beschäftigt. Aber heute möchte ich mehr darüber schreiben, was mir zu dem Thema an Gefühlen durch Kopf und Bauch geht. Aber es ist nicht einfach, genau das, was durch meinen Kopf geht, zu ordnen. Trotzdem will ich es versuchen.
Genau dieses ewige Blau, das an an manchen Tagen geebnet und zum Joggen geeignet erscheint, ist es, was mich umtreibt. Oft schau ich in den letzten Tagen in die Ferne auf den Horizont, dort wo der Himmel und das Wasser ineinander übergehen, und stelle mir genau eine Frage: Wie viele andere Menschen treiben da draußen noch irgendwo umher und haben vielleicht Angst, Hunger oder Durst? Mit genau dieser Frage habe ich auch mein Referat begonnen. Es war eine Frage, die ich mir schon einmal gestellt hatte. Nämlich am 25.10.21 in meinem Tagebuch. Aufmerksame Blogleser werden es vermutlich mitbekommen haben, dass die Besatzung der Thor schon direkte Erfahrungen mit der Flüchtlingskrise gemacht hat. Zwar nicht in der Nähe der Kanaren, sondern zwischen England und den Kanaren. Dort haben wir zwei Männer auf einem unmotorisierten Schlauchboot aus Seenot gerettet. Die beiden Männer, nur mit einem Paddel und viel zu wenig Verpflegung ausgerüstet, waren 3 Tage und 3 Nächte auf dem Ärmelkanal abgetrieben. Ihr Schlauchboot war nur 1,5m lang und alles andere als hochseetauglich. Das ist die Kurzfassung der Geschichte. Wenn ich an genau dieses Ereignis denke, aber auch an die Flüchtlingskrise im Allgemeinen, bin ich vor allem wütend.
Aber bevor ich zu meinen Gefühlen komme, will ich noch ein paar Zahlen zum Thema aufschreiben: Bis August 2021 sind dieses Jahr 12.600 Menschen auf den kanarischen Inseln angekommen. Das ist ein Anstieg um 159% im Vergleich zum gleichen Zeitpunkt des Vorjahres. Es hört sich jetzt nach sehr viel an, ist aber fast nichts, wenn man sich den prozentualen Unterschied zwischen 2019 und 2020 anschaut: Der Anstieg damals betrug knappe 900% von knapp 3000 auf 23000 Menschen eines Jahres. Natürlich überlebt nicht jeder/jede die gefährliche Überfahrt. Allein im ersten Halbjahr 2021 sprechen Nichtregierungsorganisationen von 2000 Toten. Von ihnen sind nur 61 bestätigt, der Rest gilt entweder als verschwunden oder als vermisst. Auf keiner anderen Fluchtroute von Afrika aus ist dieser Anteil so hoch. Von den Menschen, die es auf die Kanaren schaffen, haben nur circa 40 % eine Chance auf Asyl in der EU bzw. direkt in Spanien.
Wütend bin ich auf vieles. Wütend auf mich und den Rest der Gesellschaft, die diesem Problem viel zu wenig Aufmerksamkeit schenkt, wütend auf Menschen die gegen Flüchtlinge hetzen. Wenn einer dieser Menschen die beiden winkenden Menschen zwischen den riesigen Nordseewellen gesehen hätte, würde ihm das Hetzten sicher vergehen. Ich möchte nicht wissen, was diese großen traurigen Augen alles schon gesehen haben und was ihnen alles schon zugemutet wurde. Zum dritten bin ich sauer auf die Politik, auf all diese PolitikerInnen, die untätig oder unentschlossen bleiben. Und als letztes bin ich auf die Welt an sich sauer. Wie viele Menschen treiben wohl noch auf der Suche nach einem besseren Leben auf den Weltmeeren? Wie vielen anderen kann nicht geholfen werden oder wird nicht geholfen? Wie viele werden sich noch auf die Reise begeben? Auf all diese Fragen, gibt es keine Antworten. Das einzige, was ich weiß, ist, dass ich stolz darauf bin, dass die Schiffsführung entschieden hat, die beiden Männer trotz aller eventueller Probleme aufzunehmen. Ich bin stolz darauf, dass wir sie gerettet haben und ich meinen Teil dazu beigetragen habe. Aber gleichzeitig, macht es mich auch fertig, was wohl mit den beiden passiert wäre und was mit all den anderen da draußen gerade passiert. Ein anderes Gefühl, das ich spüre ist Mitleid. Mitleid mit all denen, die so verzweifelt sind, dass sie ihre Heimat verlassen müssen, um ein besseres Leben zu suchen. Mitleid mit denen, die in der EU Hass ausgesetzt sind. Mitleid mit denen, die abgeschoben werden. Mitleid mit denen, die auf dem Meer sterben oder verschwinden und zu guter letzt Mitleid mit denen, die einen geliebten Menschen verlieren. Insgesamt ist nicht das Meer das Problem, das den Menschen am Ende zum Verhängnis wird, sondern der Mensch. Wie Thor Heyerdahl sagte, verbindet das Meer eher, als dass es trennt.
Durch KUS habe ich die schönsten Seiten der Kanaren kennengelernt, ich habe aber auch gelernt, dass die Kanaren Schauplatz einer großen humanitären Krise sind. Diese Erfahrungen, die ich hier (aber v. a. auch im Ärmelkanal) gemacht habe, haben meinen Blick auf die Welt verändert. Sie haben mir die Augen über das, was wirklich in der Welt passiert, geöffnet.