Vom Tagebuchschreiben
Beim Tagebuchschreiben gehen die Meinungen stark auseinander. Auch ich war vor Beginn der Reise sehr skeptisch, was das anging. Zuerst einmal fand ich das alles schrecklich umständlich und zeitaufwendig und außerdem hatte ich keine Ahnung, wie man das überhaupt macht. Ich meine, wie soll man schon einen ganzen Tag mit all seinen Erlebnissen schriftlich auf ein paar Seiten zusammenfassen? Aber gut, brav habe ich den Ratschlag meiner Familie, Freunde und von den Ex-Kusis befolgt und 2 Tagebücher in meinen Seesack gestopft.
Am ersten Abend auf der Thor war es dann so weit. Der Erstkontakt mit meinem Tagebuch stand bevor. Ich lag in meiner Koje und starrte es mit großen müden Augen an. Ehrlich gesagt hatte ich gar keine Lust, aber ich wollte meinen Vorsatz, täglich zu schreiben, nicht gleich am ersten Tag brechen. Also öffnete ich meinen Füller und schrieb mit blauer Tinte in mein Tagebuch „Sonntag, 17.10.2021, Tag 1“. Und dann wusste ich erstmal nicht mehr weiter. Es war schon echt spät und mein übermüdetes Gehirn konnte sich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern, was am Morgen passiert ist. Nach drei Minuten des angestrengten Nachdenkens fiel mir dann doch wieder einiges ein und ich begann einfach zu schreiben. Irgendwie. Ich hatte keine Ahnung, was ich da überhaupt gerade tat, aber ich schrieb einfach wild drauf los. Ein Wort folgte dem anderen, ein Satz dem nächsten. Und plötzlich war die Seite voll und ich blätterte voller Erstaunen um und schrieb weiter, bis ich am Abend angekommen war. Mein erster Tagebucheintrag wurde am Ende zwei Seiten lang. Und diesem Eintrag folgten viele weitere. Ich lag jeden Abend in meiner Koje und schrieb auf, was am jeweiligen Tag passiert ist. Es wurde zur Routine und ich tat es inzwischen ganz automatisch. Anfangs schrieb ich immer nur relativ sachlich den groben Tagesablauf auf, aber ich merkte bald, dass dieser Schreibstil nicht zu mir passte. Meine Einträge verlängerten sich von 1-2 Seiten auf 4-5 Seiten, da ich nun auch die schönen kleinen Momente des Tages und viele meiner Gedanken und Gefühle, die mich momentan beschäftigten, aufschrieb. Ich schrieb wirklich alles in mein Tagebuch, woran ich gerade richtig viel Spaß hatte, wen ich sofort sympathisch fand, wie es ist, in einer Koje zu schlafen, aber auch die eher unschönen Momente. Ich habe alles, was mich bedrückte, aufgeschrieben, alle Momente, in denen ich am liebsten im Boden versunken wäre, angefangen hätte zu weinen, oder einfach mal jemanden angeschrien hätte. Und ich merkte bald, dass ich meine Probleme dadurch besser verarbeiten und reflektieren konnte. Aber auch die schönen Momente des Tages erlebte ich durch das Tagebuchschreiben zweimal. Oft erwischte ich mich dabei, wie ich beim Schreiben breit angefangen habe, zu grinsen oder sogar anfangen musste zu lachen, wenn ich mich an eine lustige Situation zurückerinnerte. Natürlich sieht man den Einträgen an, wenn ich an den Tagen gerade seekrank war und mich kurzfassen musste, aber alles in allem schaffte ich es, jeden Tag zu schreiben. Als ich die letzte Seite meines Tagebuches vollschrieb, war ich sehr glücklich und stolz, all meine Erlebnisse der bisherigen Reise festgehalten zu haben. Und den ersten Buchstaben in mein zweites Tagebuch zu setzen war ein wundervolles Gefühl.
Dann kam die Zeit, in der ich keine Zeit mehr hatte. Unterricht, Wache gehen, für Arbeiten lernen, Deutschblogs und Englischblogs schreiben und trotzdem noch versuchen, möglichst viel Zeit mit den anderen zu verbringen. Und dann zusätzlich noch die Sache mit dem Tagebuch. Ich fing an, ein oder zwei Tage auszulassen und dann ein paar Tage später nachzuschreiben. Das Tagebuch wurde zu einer nervigen und stressigen Angelegenheit und ich fühlte mich immer schlecht, wenn ich am Abend mich mal wieder dazu entschloss, heute nicht mehr zu schreiben. Ich setzte mich selbst unter Druck und war ziemlich unzufrieden mit mir. Das Nachschreiben erwies sich auch eher als unangenehm: Erstens war man dadurch gleich doppelt unmotiviert, Tagebuch zu schreiben, weil man wusste, dass man zuerst noch drei Tage nachholen musste, um aktuell zu werden und zweitens konnte man sich fast gar nicht mehr an den Tag erinnern. Ich habe schnell gemerkt, dass ich an einem gewöhnlichen KUS-Tag genauso viel mache und erlebe, wie zuhause normalerweise in einer halben Woche. Diese Phase des ständigen Nachschreibens entwickelte sich zu einem Teufelskreis, aus dem ich erst wieder am 23.12. herausfand. Ich setzte mir zum Ziel, heute noch wieder komplett aktuell zu werden, um an Weihnachten nicht noch alte Tage nachholen zu müssen. Und irgendwie schaffte ich es dann auch. Der Teufelskreis war gebrochen und ich begann, wieder regelmäßig jeden Abend zu schreiben. Ich fand in meinen alt-bekannten und bewährten Rhythmus zurück und hielt diesen bis über den Atlantik in die Karibik durch. Ich beschrieb in langen Einträgen die erste Schiffsübergabe, unsere Ankunft in der Karibik, das erste Mal Baden, und den wunderschönen Landaufenthalt. In der Karibik beendete ich dann auch mein zweites Tagebuch und begann ein drittes.
Und dann kam der Punkt, an dem wir alle realisierten, dass nun schon die Hälfte der Reise vorbei ist und wir uns nun auf den Rückweg über den Atlantik machen. Und das wollte ich nicht wahrhaben. Natürlich freut man sich einerseits darauf, bald wieder seine Familie in die Arme schließen zu können, aber andererseits bedeutet das auch unweigerlich das Ende dieser Reise und das Abschiednehmen von den anderen Kusis, ohne die ich mir meinen Alltag gar nicht mehr richtig vorstellen kann. Ich wollte und konnte nicht glauben, dass unsere gemeinsame Zeit sich langsam dem Ende zuneigt. Und aus diesem Grund (und weil die Aufbruchszeit wieder ziemlich stressig war), verschob ich das Tagebuchschreiben immer wieder auf den nächsten Tag. Und am nächsten Tag verschob ich es wieder. Der Teufelskreis begann wieder, nur dass der Abstand zwischen dem zuletzt aufgeschriebenen Tag und dem aktuellen Datum immer und immer größer wurde und irgendwann wie eine groß aufragende Mauer wirkte. Selbst das Nachschreiben funktionierte nicht mehr und so kam es, dass ich 2 Wochen lang gar kein Tagebuch mehr schrieb. Und in diesen Wochen ist so unglaublich viel passiert- sowohl in der Gruppe als auch in mir als Person. Und keine von diesen Veränderungen habe ich festgehalten. Das merkte ich dann eines Abends und beschloss, dass es so nicht weitergehen konnte. Ich merkte, wie wichtig mir das Tagebuchschreiben geworden ist, und wie sehr ich es vermisste. Ich ließ einige Seiten frei und begann wieder damit, den aktuellen Tag aufzuschreiben. Jetzt bin ich zurzeit wieder aktuell mit meinem Tagebuch, und ich habe mich damit abgefunden, dass ich die zwei Wochen, in denen ich gar nicht geschrieben habe, nicht mehr nachholen werden kann. In diesen zwei Wochen hat schließlich mein Unterbewusstsein für mich beschlossen, dass es zurzeit einfach wichtigere Dinge gibt, als Tagebuchschreiben. Und das ist auch vollkommen in Ordnung.
Tagebuch zu schreiben ist für mich zu etwas geworden, das ich mir nicht mehr aus meinem Alltag wegdenken kann. Der Abschluss eines Tages und das Zurückerinnern an all die wunderschönen Momente, die ich innerhalb dieser 24 Stunden erlebt habe. Das schönste Gefühl von allen ist aber, seine alten Tagebucheinträge durch zu stöbern und nach einiger Zeit mal wieder zu lesen. Und genau deswegen lohnt es sich so, diese Reise mitzuschreiben. Natürlich geht sie irgendwann zu Ende, aber sein Tagebuch nimmt man mit nach Hause. Und wenn das Heimweh auf die Thor irgendwann zu groß wird, kann man es jederzeit herausholen und nachlesen, was in diesem halben Jahr passiert ist.