Mittendrin

Ich stehe ganz, ganz oben in den Wanten des Schonermasts, fast 30 Meter über der Wasseroberfläche, die mittlerweile nicht mehr atlantikblau, sondern dunkelgrün ist. Das Deck und die Menschen unter mir sind so klein, genauso klein wie die Thor auf dem Meer, das heute sehr still ist. Der leichte Wind bläst mir die Haare ins Gesicht und ich kann nicht anders, als breit zu lächeln, als hinter mir nach stundenlangem Regen die Sonne hinter ein paar Wolken hervorlugt. Es war eine so gute Entscheidung, noch einmal ins Rigg zu gehen, ganz nach oben auf den Schoner, der bis heute die einzige Spitze der Thor war, auf die ich noch nicht geklettert bin. Das musste heute, unserem wahrscheinlich letzten Tag auf See nachgeholt werden!

Heute ist der letzte ganze Tag auf See. Es kommt mir total surreal vor, dass wir wirklich heute schon in Helgoland einlaufen werden und uns bereits jetzt in deutschem Seegebiet befinden. Vor ein paar Tagen hatte man den nahenden Abschied schon überall auf der Thor gefühlt. Auf einmal gab es immer mehr kulturelle Beiträge. Texte, Gedichte und selbstgeschriebene Lieder wurden vorgetragen und dann hieß es samstags anstoßen auf die letzten zwei Wochen, die uns noch bleiben, auf die letzten Segeltage, die letzte Schiffsübergabe. Beim Abendessen hörte man immer öfter Gespräche über das Ankommen, das Wiedersehen und den Abschied, Pläne für Nachtreffen wurden bereits jetzt geschmiedet und bei dem ein oder anderen flossen schon die ersten Tränen. Natürlich freuen wir uns auf zu Hause und darauf, unsere Freunde und Familie wiederzusehen, aber wie verabschieden wir uns von 50 Menschen, mit denen wir sechs Monate auf engstem Raum zusammengelebt haben, 50 Menschen, die uns mittlerweile so gut kennen und mit denen wir so viel erlebt haben, dass man damit ganze Romane füllen könnte? Diese Fragen kreisten in sämtlichen Räumen der Thor umher und schleichen sich in meine Gedanken ein.

Aber mit dem Start der Schiffsübergabe fühlt es sich auf einmal wieder so an, als würde unsere Reise noch ewig weitergehen, als wären wir noch mitten auf dem Atlantik mit einer kleinen Unendlichkeit voraus. Dabei ist so vieles anders, als auf dem Atlantik, immer mehr Schiffe kreuzen unseren Weg, die Farbe des Wassers hat sich in den letzten Tagen immer wieder verändert und man sieht häufig Land am Horizont auftauchen. Als Wachführerin der Wache 2 habe ich jetzt einiges zu tun und die Segelaction, Reinschiff und Wache gehen lassen alles andere in den Hintergrund treten. In den letzten Tagen habe ich so viel gelernt, wie schon lange nicht mehr und plötzlich sind wir wieder mittendrin, als hätte uns die Verantwortung dieser Aufgaben noch ein bisschen der Reise zurückgegeben, die eigentlich schon fast vorbei war. Dass wir bald ankommen, merkt man aber trotzdem daran, dass alle auf der Jagd nach neuen Erinnerungen sind und selten nein sagen, zu gemeinschaftlichen Erlebnissen oder einer Kletterpartie im Rigg. Wir sind nicht mehr lange hier und diese Zeit müssen wir ausnutzen. Klar könnte ich einmal richtig ausschlafen, oder endlich einmal all das Passierte der letzten Tage aufschreiben, das mir im Tagebuch noch fehlt. Aber dann sind Joschi und ich nach der Wache noch wachgeblieben, um den Sonnenaufgang im Klüverbaum anzuschauen. Dann haben Franzi und ich beschlossen, auf den Besanmast zu klettern, als Delfine neben uns hergeschwommen sind. Dann haben Alma, Elisa, Franzi und ich uns in unserer Kammer Lichterketten aufgehängt, unseren Süßigkeitenvorrat geplündert und uns mit unseren Schlafsäcken auf den Boden gesetzt und einen Kammerabend gemacht. Dann hat Christian uns abends wieder auf dem Achterdeck vorgelesen. Dann musste ich noch einen Thorkuchen backen, zur Feier des Geburtstages meiner Schwester zu Hause.

Ganz zu schweigen von den Plänen, die wir noch haben. In unserer Wache wollen wir noch einmal mitten in der Nacht in der Last Wizard spielen und ich muss unbedingt noch einmal mit Ferdi und Ronja die Mars packen gehen, wie wir es im strömenden Regen im Schlafanzug vor Grenada gemacht haben. Alle Tage sind voll mit all diesen besonderen Momenten, die wir hier auf der Thor haben und mit Plänen von all den Sachen, die wir unbedingt noch vor dem Einlaufen tun wollen. Trotzdem fühlt sich das Ankommen meistens noch ganz weit entfernt an und nicht so, als wäre all das bald vorbei. Wir segeln, wie wir es immer tun, werden heute in einen fremden Hafen fahren, wie schon viele, viele Male zuvor und werden dort genau das tun, was wir immer tun, wenn wir einlaufen, nämlich unsere Segel hafenfein packen. Das alles ist zur Routine geworden und auch wenn ich weiß, dass es das letzte Mal vor Kiel sein wird, dass wir die Segel packen und dass wir danach nicht einfach wieder mehrere Wochen weitersegeln, fühlt es sich nicht so an.

Aber manchmal, an Abenden nach langen, vollen Tagen, erinnern wir uns dann auf einmal daran, wie wenig Zeit noch übrig ist. Und dann ist es in Ordnung, wenn man auch mal traurig ist. Aber tagsüber ist die Schiffsübergabe und das Leben auf der Thor. Vielleicht sind wir dann zeitlos und es gibt nicht wirklich ein Ende der Reise, weil wir irgendwie immer mittendrin sind, selbst noch in deutschem Fahrwasser und mit einem deutschen Hafen in Sicht.

Als ich vom Schonermast herunterklettere, präge ich mir noch einmal die ganzen Wellen, den Anblick des Windes in den Segeln und der unendlichen Weite des Meeres ein. Wir kommen in sieben Stunden in Deutschland an. Und dann bleiben uns noch zehn ganze Tage und eine Fahrt durch den Nord-Ostsee-Kanal bis zur Ankunft. Und bis dahin…sind wir noch mittendrin.

KUS-Ticker

Dienstag, 11.04.2023

Mittagsposition: 53°11,3’N; 004°34,2’E
Etmal: 155,4 sm
Wetter: bewölkt; Temperatur: Luft 9°C, Wasser 8,5°C; Wind: WzN 6

  • 10:00 Uhr Schüler-Stammversammlung
  • 13:30 Uhr Halse
  • 14:30 Uhr Halse
  • 17:30 Uhr Halse

Mittwoch, 12.04.2023

Mittagsposition: 53°48,9’N; 007°57,8’E
Etmal: 100 sm
Wetter: bewölkt; Temperatur: Luft 7°C, Wasser 8,5°C; Wind: SSE 4-5

  • 17:30 Uhr Wende
  • 19:45 Uhr Robbensichtung
  • 20:00 Uhr Einlaufen Helgoland