Dusche steuerbord – Haare fort

Der Tag beginnt für mich in der Navi um Punkt 00:00 Uhr: Position aufschreiben und in die Karte eintragen mit den großen Navigationsdreiecken. Ich wechsle die Seekarte von der Insel Teneriffa zu einer mit größerem Maßstab, denn das, was wir vorhaben, verlangt größere Dimensionen: die Atlantiküberquerung. Einmal über den Pott. Detlef hat uns erklärt, was das bedeutet. Nach Süden steuern bis die Butter schmilzt und dann Steuerbord nach Westen abbiegen. Auf uns aufpassen – noch besser als sonst – weil wir fast einen Monat lang fernab von Zivilisation und damit Krankenhäusern übers Meer segeln. Langsam verstehen wir, was auf uns zukommt, bekommen den „Point of no Return“ erklärt. Sind wir drei Seetage auf dem Atlantik unterwegs, wird die Rückkehr gegen den Passatwind eigentlich unmöglich. Wir wenden dem Land den Rücken zu und blicken ins Blaue.

So viel hielt uns auf Trab in der letzten Woche auf St. Cruz de Tenerife. Der Teide in seiner vollen Pracht und Hitze, bewachsen von faszinierenden Pflanzen wie dem Drachenbaum, Baden an vulkangestein-schwarzen Stränden, das Eintauchen in Thor Heyerdahls und Teneriffas Geschichte im Museum und viele spannende Menschen aus den Kreisen der Tigris-Expedition, die uns am Schiff besuchten.

Schließlich kamen Freitag und Samstag, ein Kraftakt aus Kammerumzug, Proviantschlepperei und Seefest-Machen des Schiffes. Wir haben viel lachend gestöhnt (bei Ersterem), haben zu lauter Musik gequatscht und gesungen (bei Zweiterem) und lernten unglaublich viel über unser Schiff. Z. B. wie ein halbes Dutzend Menschen in einer Handvoll Stunden drei neue Segel basteln können: ein Skysegel Backbord und Steuerbord, dazu ein Leesegel – damit die Überfahrt ein geschwinder Spaß wird.

Samstagnacht verfolgen uns noch die Insellichter wie eine bunte Milchstraße am Horizont. Zum Morgengrauen haben wir sie hinter uns gelassen. Wellen von 0,8m wiegen das Schiff sanft – kaum merklich für unsere in der ersten Etappe gewonnenen „Seebeine“. Wer es noch nicht getan hat, realisiert spätestens jetzt den Aufbruch – und die 360° Sicht auf Himmel und Meer und wieder Himmel und noch mehr Meer. Das erste Mal im Rigg mit einem Kreis Horizont um mich herum ist atemberaubend. Die Seeleute, die damals die Erde für eine Scheibe hielten, hatten von einem Moment auf den anderen mein volles Verständnis. Die Größe des Ozeans passt vielleicht auf eine Karte, aber nicht in meinen Kopf.

Ich komme von der Navi hoch und meine Wache steht in lustiger Runde um den Kompass. Wir diskutieren Knoten, Lichterführung, Kollisionsverhütung. „Kannst du einen Palstek hinter deinem Rücken? Lichter rot auf weiß? Fischerschei… Wie vermeiden wir, von einem entgegenkommenden Frachter verschluckt zu werden?“ Klüger als vorher geht es um 02:00 Uhr in die Kojen und Hängematten. Noch besser als das Einschlafen nach so einer Wache 1 ist das Aufwachen am Morgen. Um 09:00 Uhr in behaglicher Wärme und hellem Licht, das durchs Oberlicht fällt. Eine wache Stimme erzählte uns von Sonne draußen und dem Sonntagsfrühstück in der Messe. Gestärkt starten wir eine Stunde später in ein eingespieltes Reinschiff Messe. Reinschiff am Sonntag? Gibt es doch sonst nur für Sanitär? Ja, aber gestern fanden alle Stationen zu wenig (also gar keine) Aufmerksamkeit, sind also wirklich überfällig. Die Ansage unseres Wachführers Lukas um 11:00 Uhr stößt auf Freude: Gerne was zu lesen auf Deck mit zur Wache bringen, die Erwachsenen schmeißen unsere Wache während ihrer Stammversammlung auf dem Achterdeck. Wir halten uns bereit auf dem Hauptdeck und schreiben Tagebuch.

In der Wache gibt es Mittagessen für alle und als alle Teller geleert sind, bleibt die Crew in der Sonne sitzen. Nur Paul steht vorne: Whitebord, Handouts und Weltkarte bei sich. Die nächste halbe Stunde lauschen wir seinem Referat. Thema: Humboldt – Forscher oder Entdecker? Ziemlich mitreißend, gerade wenn Paul erzählt, wie wir teilweise in den Fußstapfen Alexander von Humboldts wandeln mit unserer Reise. Es gibt großen Applaus und begeistertes Lob. Es sei ein richtig gutes Gefühl, das Referat hinter sich zu haben, meint Paul in unserer Wachbesprechung von Wache 1 auf dem Deckshaus. Es ist einer der wenigen Momente, in denen wir uns noch als vollständige Wache sehen, da ab Unterrichtsbeginn die Wachen geteilt werden. Wir blicken zurück, reden über unsere Stimmung, über Wünsche und Ideen für die Wochen bis Dominica.

Bis zum Abendessen suche ich mir ein Plätzchen auf dem Achterdeck und entwirre Satz für Satz in meinem Tagebuch die Geschehnisse der letzten Tage und Nächte. Um mich herum ist gute Laune. Ich lasse mich mitreißen in einer Diskussion von Wache 2. Diskussionsgegenstand: Bananenzählen. Noch ein Einfall aus unserer Nachtwache heute früh. Die drei Strünke Bananen hinter dem Ruder inspirierten uns zu neuem Spökes (d.h. Erzählen und Verbreiten kompletten Quatsches zur Erheiterung der Allgemeinheit) – sie sollen nun stündlich geprüft werden auf Vollständigkeit und Sicherheit. Wache 2 lässt es sich nicht nehmen, ein Bananenrondenbuch anzulegen. Banane Nummer 1, Name Bertram, Peilung der beiden Enden… was für eine pflichtbewusste Truppe.

Abendessen. Es bilden sich die ersten Spielrunden in der Messe. Phase 10, Halt Mal Kurz, Schweinewürfeln … nach einer Partie „6 Nimmt“ springe ich auf. Stand heute nicht noch ein besonderer Tagespunkt an? Marlene und Guilhelm haben eingeladen – ins Bad. Von dort kommt gerade Luzze (Lukas) mit einem Handtuch um den Hals und – einem neuen Haarschnitt. Der frischgebackene Friseursalon wird ein kleines Spektakel. Guilhelm, der Bootsmann, bekommt einen neuen Undercut und macht mit den Haaren von Marlene (unserer Lehrerin) weiter. Wir kommentieren so fleißig von der Seite, dass Guilhelm uns schließlich aus der Tür schiebt und wir als neugierige Meute ans Bulleye wandern. Marlene ist mit ihrem Look zufrieden und macht Friedrich Platz auf dem Friseurhocker im Salon „Dusche Steuerbord, Haare fort“. Er bekommt zu seiner Freude die Kopfseiten getrimmt und wir dann noch eine ordentliche Mütze Schlaf. Eine Neuerung dieser Etappe von Lukas, Anna und Amelie soll Ordnung an Deck bringen: In den kunstvoll gestalteten Hängemattenplan tragen sich ab jetzt gewissenhaft alle Sternenhimmelschlafenden ein. Auf ein erfolgreiches Wecken zu jeder Tages- und Nachtzeit – das wird ab jetzt nämlich auch vom Tagesrhythmus her nicht simpler.

Dieser Tag war Auftakt der neuen Etappe. Die Vorbereitung auf morgen, wenn der Schiffsalltag einkehrt, den wir von KUS-Fotos kennen: Unterricht auf sonnigen Bänken auf dem Hauptdeck, nebendran die Fahrwache, es gibt Praktika, Backschaften, Projektgruppen, Beauftragungen und wer da noch übrigbleibt, kommt in die Freiarbeit.

Projektleiter Jakob und die Projektleitungsassistenz stellten uns mittags schon die zahlreichen Listen, Pläne und Übersichten vor. Da kommen wir schnell rein, meint Jakob, als er in unsere großen Augen blickte. Das glaube ich auch und spüre ein Kribbeln aus Vorfreude und Tatendrang und Abenteuer in mir.

Montag warten 9 Unterrichtsstunden auf uns, die Unterrichtsgruppe B. Die letzte Doppelstunde wird mit besonderer Spannung erwartet: Astronomische Navigation bei Detlef. Jeder KUSi will es einmal probieren: Mit Sextanten, Sonne und Horizont unsere Thor navigieren. Mein Maschinenpraktikum startet Dienstag, inklusive Brotbacken, auch einer Praktikumsaufgabe.

KUS-Ticker

Sonntag, 19.11.2023

Mittagsposition: 27°12‘N; 48°6’W
Etmal: 80 sm
Wetter: Lufttemperatur: 26,5°C, Wassertemperatur: 24°C, Wind: ENE 4

  • 11:00 Uhr: Stammversammlung
  • 13:45 Uhr: Referat von Paul zum Thema „Humboldt“
  • 19:00 Uhr: Bordfriseur öffnet ein erstes Mal