Solo
Alle Schüler und Stammis sitzen in einem Stuhlkreis und hören Ruth zu. Sie leitet ein fünfstündiges Solo ein und liest einen Text vor, der uns darauf einstimmt.
Danach sucht sich jeder einen Platz für sich. Niemand spricht. Wir können uns in den nächsten Stunden völlig auf uns selbst und unsere Gedanken konzentrieren. Außerdem bekommen wir den Brief, den wir vor der Reise an uns selbst geschrieben haben. Diesen dürfen wir jetzt öffnen und weiterschreiben.
Ich gehe ans Wasser und setze mich in einiger Entfernung vom Wasser in den Sand.
—
Die Wellen brechen am Strand. Sie türmen sich auf, immer höher und höher, bis das Gewicht des Wassers zu übermächtig wird und sie schließlich in einem tosenden Rauschen brechen. Danach fließt das Wasser wieder zurück, nur um sich danach erneut zu einer Welle aufzutürmen. Vor und zurück, vor und zurück. In seinem eigenen Takt, in eigenem Rhythmus. Irgendwann wird alles enden, und nur noch die Wellen wird man sehen, wie sie in ihrem unendlichen Rauschen am Strand brechen. Irgendwie ist das eine beruhigende Vorstellung. Wenigstens eine Sache, die beständig ist. Das Meer wird immer da sein, in seiner ungezügelten Schönheit, die alles andere unwichtig erscheinen lässt.
Ich schließe meine Augen und lasse mich von meinen Gedanken tragen, lasse mich treiben in diesem Strom aus Gefühlen und Erinnerungen. Sie werden lauter und lauter, übertönen das Wellenrauschen und füllen meinen Kopf ganz aus.
Die letzten Tage, Wochen und Monate ziehen vor meinem inneren Auge vorbei. Es ist so viel passiert, dass es sich anfühlt als wären wir schon seit Jahren auf diesem Schiff. Und gleichzeitig scheint es erst gestern gewesen zu sein, dass ich mich in Kiel von meiner Familie verabschiedet habe.
Gestern.
Heute.
Morgen.
Die Zeit verrinnt in meinen Händen, wie der Sand, der mir durch die Finger gleitet. Wie verzweifelt ich auch versuche daran festzuhalten. Die Hälfte der Zeit ist vorbei. Aber die Hälfte liegt auch noch vor uns. Es wird noch so viel passieren. Ich werde noch so viele Erfahrungen machen, die mich für immer verändern werden. Die mich vielleicht zu dem Menschen machen werden, der ich irgendwann einmal sein werde.
Ich weiß nicht, wer ich bin oder wer ich sein soll.
Ich bin eine Tochter.
Eine Schwester.
Eine Freundin.
Ich bin ich. Aber wer ist das?
Ich schaue mich um. Zu beiden Seiten nur Sand und vor mir Wasser bis zum Horizont. Es fühlt sich so an, als wäre ich der einzige Mensch auf der Welt. Als wäre ich allein.
Allein.
Ich bin allein.
Allein an diesem Strand.
Aber nicht einsam.
Ich weiß, dass es Menschen gibt, die mich trösten werden, wenn ich traurig bin.
Ich weiß, dass mir immer jemand zuhört und für mich da ist.
Ich weiß, dass ich nicht wirklich allein bin.
Langsam verflüchtigen sich meine Gedanken. Wie von einem sanften Wind geblasen, werden alle Sorgen und Bedenken davon geweht, die Gedanken werden leiser und leiser, bis alles, was ich höre, das Rauschen der Wellen ist. Nichts ist mehr wichtig. Ich bin einfach da.
Eine innere Ruhe überkommt mich. Ich schaue auf das Meer, auf den Horizont in seiner unendlichen Weite, und mich durchströmt dieses unbändige Glücksgefühl. Es ist nicht wichtig, was war, oder was sein wird. Alles was zählt, ist jetzt. Dieser Moment.
Ich bin jetzt.
Umgeben von Sand und Meer.
Und irgendwie ist das genug.
Ich bin genug.
—
Veronika und Ruth gehen herum und bedeuten uns stumm, zu unserem Stuhlkreis zurückzukehren. In Gedanken versunken gehen wir zurück und setzen uns schweigend auf unseren Platz. Zum Ausklingen liest Ruth erneut einen kurzen Text vor und beendet damit das Solo.
KUS-Ticker
Montag, 01.02.2021
Mittagsposition: Porto Ingles, Maio, Kap Verde
- 07:00: Aufstehen in den Ferienwohnungen, Packen, Aufräumen, Putzen, Frühstücken
- 10:30: Loslaufen in Richtung Thor
- 11:30: Ankommen auf der Thor
- 12:00: Mittagessen: Toast mit geschmolzenem Käse
- 13:30 – 15:00: Schiffsarbeiten und Einzug in die neuen Kammern
- 15:00: Kaffee
- 15:30 – 17:00: Badeanstalt Thor Heyerdahl
- 17:00 – 18:30: Schiffsarbeiten und Einzug in die Kammern
- 18:30: Abendessen: Spaghetti Bolognese
Dienstag, 02.02.2020
Mittagsposition: 14° 58,9`N 023° 2,3`W
Wetter: Wassertemperatur: 23°C Lufttemperatur: 23,5°C
- 06:30: Wecken
- 07:00: Signal K: All Hands on Deck
- 09:00: Ankerhieven unter Segeln, Auslaufen unter Segeln
- 09:30: Frühstück
- 10:10: Reinschiff
- 11:30: Wachtreffen, Abschluss in der Wache (mit Schokolade)
- 12:15: Fahrwache
- 12:30: Mittagessen: Brot und Nudelsalat
- 13:00 – 18:30: Manöver: Ankern bei Praia, Santiago, Schiffsarbeiten; Segelpacken
- 18:30: Abendessen: Kartoffelsuppe mit Brot, Sahne und Speck