Von Fußballern, Gummienten und Eisschollen
Ich falle meiner Familie um den Hals. Mein Schulleiter steht auf einem riesigen Berg gelber Gummienten und hält eine Abschlussrede, aber keiner hört zu. Die Familien stehen in großem Abstand voneinander an der Pier. Ist das dort hinten nicht Thomas Müller? Krass, ich wusste gar nicht, dass jemand von uns mit ihm verwandt ist. Heißt Keana nicht auch Müller mit Nachnamen?
Zwischen den Familien sind tiefe Gräben als Abgrenzung ausgehoben, die mit Wasser gefüllt sind. Darauf brettert Simon unser Bootsmann in einer babyblauen Motorjacht entlang und wird von unserem Maschinisten Willhelm auf einem schwimmenden Bobbycar gejagt. Willhelm kommt immer näher und näher, Wasser spritzt auf und…
„Anouk! Es gibt Hefebrötchen zum Frühstück. Kommst du?“
„Mmh, nein. Bin zu müde.“
„Darf ich dann deins haben?“
„Mmhm. Ja.“
Plötzlich beginnt die Eisscholle auf der ich stehe, abzutreiben, immer weiter und weiter, bis ich ganz allein auf dem Meer treibe. Ich sehe nur Wasser, dass sich spiegelglatt bis zum Horizont erstreckt. Ein Ruck geht durch das Eis, ich stolpere und falle ins blaue Wasser. Immer tiefer und tiefer falle ich, bis mich nur Dunkelheit umgibt. Auf einmal taucht ein Schatten aus der Schwärze auf, schießt auf mich zu-
„Anouk.“
„Anouk!“
Ich schrecke aus dem Schlaf hoch. Ich öffne meine Augen und schaue in das grinsende Gesicht meines Englischlehrers.
„Es ist jetzt halb zwei mittags und in einer halben Stunde hast du Wache. Draußen sind es 13 Grad und es ist trocken. Bist du wach?“
Ich nicke schlaftrunken, aber sobald er das Zimmer verlassen hat, ziehe ich mir die Decke über den Kopf. Habe ich wirklich den ganzen Tag und sogar das Frühstück und Mittagessen verschlafen? In der Koje neben mir regt sich Paula. Beim Anziehen zur Wache erzählt mir Paula, wie lecker das Frühstück war und wie gut die Hefebrötchen geschmeckt haben. Besonders meins.
Wir beide quälen uns aus dem Bett und erscheinen pünktlich zur Wachübergabe auf dem Achterdeck, in Ölzeug und Gummistiefeln. Mittlerweile ist es auch wieder so kalt geworden, dass Handschuhe wichtig sind, um in der Wache nicht zu frieren. Doch fast sofort geht es für mich und einige andere wieder zurück in die Messe, wo Lukas, der Wachführer von Wache drei, uns etwas über die Lichterführung bei Schiffen erzählt, als Vorbereitung für die dritte und letzte Schiffsübergabe, die im Englischen Kanal stattfinden soll. Im Anschluss daran geht die Hälfte unserer Wache Reinschiff machen, während die andere Hälfte auf dem Achterdeck bleibt und das Schiff fährt. Eigentlich ist Reinschiff sonntags ausgesetzt, aber unsere Wache hat diese Woche das große Los gezogen und darf die Sanitäranlagen putzen, die auch am Sonntag gereinigt werden.
Danach ertönt irgendwann die Schiffsglocke: lang, kurz, lang. Signal K. Alle stellen sich in ihren Wachen auf dem Achterdeck auf und unser Kapitän Detlef überprüft die Anwesenheit. Dann werden alle Segel geborgen, denn wir sind kurz vor unserem Ankerplatz in einer Bucht in der Nähe von La Coruna. Es ist eigenartig wieder hierher zurückzukommen, wo wir schon am Anfang unserer Reise waren.
Nachdem meine Wache unsere Segel geborgen hat, packen wir sie behelfsmäßig. Dafür müssen wir uns unsere Klettergurte anziehen und dürfen nach oben klettern. Währenddessen fällt der Anker.
Nachdem wir alle Segel gezeisert haben, versammelt sich die Schiffsbesatzung in der Messe. Der Beamer ist aufgebaut und wirft ein Bild an die Wand. Es ist unsere Projektleiterin Ruth, die uns entgegenlächelt. Über Zoom haben wir die Möglichkeit, das erste Mal wieder mit ihr zu sprechen, seit sie das Schiff verlassen hat. Sie erzählt uns etwas über die Situation zu Hause und darüber, wie es ihr geht. Der eine oder andere bleibt danach in Gedanken versunken zurück. Zu Hause ist so weit weg, dass es schwer vorstellbar ist, wie es dort zur Zeit zugeht. Aber der Tag der Rückkehr rückt immer näher.
Nach dem Abendessen wird eine Schülerversammlung einberufen, was nicht unbedingt auf große Begeisterung trifft. Einfach ausgedrückt: Sie neigen dazu, sich unnötig in die Länge zu ziehen. Doch heute geht es um die Schiffsübergabe und darum, wer sich auf welchen Posten bewirbt, und die gespannte Aufmerksamkeit aller richtet sich auf unsere neuen Schülermoderatoren Keana und Leon.
In der Nacht habe ich Ankerwache. Als ich auf dem Achterdeck stehe, blicke ich über die Bucht, in der wir vor Anker liegen. Die Lichter des Festlandes leuchten zu uns hinüber. Dahinter ist der Umriss des Waldes zu erkennen, der sich schemenhaft gegen den dunklen Nachthimmel abhebt. Die Sterne scheinen vom schwarzen Himmel herunter. Nach und nach kommt das Schiff zur Ruhe. Langsam ersterben alle Geräusche bis alles, was zurückbleibt, eine Stille ist, die alles umfasst, sodass sich eine Decke aus Ruhe und Frieden über das Schiff zu legen scheint. Ich schließe die Augen und lausche der Stille, die mein Innerstes ganz ausfüllt, bis es auch dort ruhiger wird.
Nach der Ankerwache falle ich erschöpft ins Bett und fange wieder an zu träumen…
KUS-Ticker
Sonntag, 11.4.2021
Mittagsposition: 43° 54.9’ N 008° 06.2’W
Etmal: 144.7 sm
Wetter: Lufttemperatur: 13°C Wassertemperatur: 14,5°C
- 15:00: Kaffee
- 16:30: Signal K
- 17:30: Anker fällt
- 18:00: Zoommeeting mit Ruth
- 20:00: Schülerversammlung