Normalität

Was ist Normalität? Wie kann man den Begriff „normal“ beschreiben? Wenn wir täglich zur Schule oder Arbeit gehen, ist das für uns normal. Es ist ein regelmäßiger, normaler Ablauf, der sich jeden Tag wiederholt. Auch hier in dieser Welt, die doch eigentlich abgeschnitten ist von der immer gleichen Realität des Lebens an Land, setzt trotzdem langsam eine Art Alltag ein. Aber kann man diesen Alltag als normal bezeichnen?

Wenn ich morgens um 04:30 Uhr geweckt werde und aufstehe, habe ich meistens das Gefühl, dass dies normal sei. Dass es normal ist, sich danach schweres, wasserfestes Ölzeug anzuziehen und zusammen mit seiner Wache, bestehend aus zehn weiteren Personen, nach draußen an Deck zu gehen. An Deck eines riesigen Dreimasters, mit dem wir jetzt schon seit mittlerweile einem Monat unterwegs sind – an Deck der Thor Heyerdahl. Und dieses Draußen ist auch nicht nur irgendeines. Immer wenn ich das Innere des Schiffes verlasse, geht mein erster Blick nach oben zum Himmel. Dort über mir erstreckt sich fast jede Nacht ein unendliches Meer aus Sternen. Ein unendliches Meer aus Sternen, das sich in einem weiteren unendlichen Meer verliert. Man hat nicht den Hauch einer Ahnung, was sich in diesem Meer befindet. Man weiß nicht, ob es unter einem gerade 50, 1000 oder 5000 Meter in die Tiefe geht. Mit Gewissheit kann man, wenn man sich umsieht, nur sagen, dass sich nirgendwo in der dunklen Umgebung ein weiteres Licht befindet, dass der Horizont, der Sterne und Meer voneinander trennt, leer ist. Nirgendwo ein anderes Schiff.

Ich stehe also jeden Tag komplett abgeschnitten vom Rest der Welt an Deck eines 50 x 6,50 Meter breiten Gefährts aus Stahl, und es fühlt sich normal an. Ist das überhaupt möglich?

Kurze Zeit nachdem ich es geschafft habe, mich umzusehen, muss ich auch schon zum Achterschiff, dem hinteren Teil des Schiffes gehen, um an der Übergabe der Wache teilnehmen zu können. Unsere Gruppe wechselt die vorherige ab und eine ganz normale, dreistündige Wachzeit beginnt – so wie jeden Tag. Nach und nach werden alle Stationen von uns übernommen. Reihum wird gefragt, wer welche Aufgaben übernehmen will. Als Ausguck müsstest du zum Beispiel nach anderen Fahrzeugen Ausschau halten, hättest aber auch die Möglichkeit, weiterhin das Meer zu beobachten, und erlebst oft einen wunderschönen Sonnenaufgang mit. Du kannst unglaubliche Farbspiele am Himmel beobachten, siehst vielleicht Sternschnuppen oder Regenbögen, die sich von einer bis zur anderen Seite des Horizonts erstrecken, und außerdem hast du die Möglichkeit in Ruhe über das nachzudenken, was dich beschäftigt. Wie zum Beispiel der Begriff „Normalität“. Warum fühlt es sich auf einmal so normal an, die Aufgabe des Ausguckpostens zu übernehmen? Und nicht nur das, auch jede andere Aufgabe, wie zum Beispiel das Kontrollieren der Maschine, das Eintragen unserer derzeitigen Position und vor allem das Rudergehen ist völlig alltäglich geworden. Ich hatte mir vor dieser Reise so oft versucht vorzustellen, wie es werden würde, dieses riesige Schiff zu steuern. Wie es werden würde, hinter dieser Art Lenkrad zu stehen und zu wissen, dass man das gesamte Schiff nun in egal welche Richtung drehen könnte. Und nun spielt es keine Rolle mehr. Du löst deinen Vorgänger ab und versuchst, die nächste halbe Stunde einfach dem derzeitigen Kurs zu folgen. Und es fühlt sich völlig normal an.

Der Tag geht voran. Die Wache endet und es gibt Frühstück. Ein Frühstück, das auf Anti-Rutschdecken zubereitet wurde. In einer Küche, die sich ständig von einer Seite zur anderen neigt, in der alles seefest verstaut ist, die Töpfe befestigt sind und die Arbeitsfläche ein Geländer hat. Eine Küche, in der man aus dem Fenster schaut und nichts anderes als Wasser sieht. Ganz normal…

Es beginnt das alltägliche Reinigen unseres neuen Zuhauses, welches den Namen „Reinschiff“ trägt. Um 12:00 Uhr gibt es Mittagessen, daraufhin folgen Besprechungen in den verschiedenen Wachgruppen und kurze Zeit später beginnt auch schon die zweite, dreistündige Wache an diesem Tag. Alles wiederholt sich erneut. Wache, Reinschiff, Mittagessen, Besprechung, erneute Wache und wieder ein neuer Tag, und die kostbare Zeit, die wir hier auf der Thor haben, vergeht immer schneller.

Doch immer wieder zwischendurch gibt es Momente, in denen man realisiert, dass dieser Alltag auf keinen Fall normal ist. In denen man mit aller Deutlichkeit vor Augen gehalten bekommt, warum man an diesem Projekt teilnehmen will. Momente, die nicht zu einer Normalität dazuzählen können. Wie zum Beispiel die Sichtung eines 20 Meter langen Finnwals, der sich 10 Meter neben uns aus dem Wasser hebt. Wenn die Thor Heyerdahl schließlich als Badestation eröffnet wird und man im November bei strahlendem Sonnenschein viele Kilometer von jeglichem festen Land entfernt ins Meer springt. Oder wenn so wie heute endlich dieses feste Land in Sicht kommt und man weiß, dass man dieses Schiff nach über zwei Wochen bald das erste Mal verlassen wird und den Fuß auf ein nicht schwankendes La Palma setzen kann.

Und wenn man über diese Momente nachdenkt, realisiert man irgendwie vollkommen, dass die Welt hier auf keinen Fall normal ist.

KUS-Ticker

Freitag, 12.11.2021

Mittagsposition: 32°42,9’N; 0,16°34,0‘W
Etmal: 119,9 sm
Lufttemperatur: 20°C Wassertemperatur: 21°C

  • 12:30 Uhr Kurzer Vortrag über die Insel Madeira durch unserer Lehrerin Judith
  • 13:00 Uhr Erklärung einer Wende von Detlef
  • 14:00 – 15:30 Uhr Übung und anschließende Durchführung zweier Wenden
  • 17:00 Uhr Referat von Toni mit dem Thema „Delfine“

Samstag, 13.11.2021

Mittagsposition: 30°48,1’N, 017°16,0‘W
Etmal: 125,7 sm
Lufttemperatur: 22,5°C Wassertemperatur: 23°C

  • 13:00 Uhr Aufklaren der Kammern
  • 16:00 Uhr Traditionelles Besanschot an auf dem Achterdeck
  • 17:00 Uhr Schülerversammlung
  • 17:45 Uhr Vortrag von Carlotta über unsere Maschine (Viertaktmotor)