Schwerelosigkeit

Auf der Thor ist es manchmal gar nicht so einfach, sich daran zu erinnern, dass man wirklich hier ist, dass man das Projekt, auf das man monatelang hin gefiebert hat, jetzt lebt, dass das hier alles real ist und dass wir auf einer Reise sind mit einem Ziel. Denn in der Abfolge aus Wache, Essen, Schlafen und dem Versuch, in der Zeit dazwischen mit Jedem zu reden und Alle kennenzulernen, verheddert man sich schnell. Man kümmert sich nur noch darum, alle Aufgaben so gut wie möglich zu erledigen und teilweise verliert man das große Ganze ein wenig aus den Augen.

Aber dann gibt es Tage oder Momente, in denen es einem wieder einfällt, dass ich hier bin, dass ich hier lebe und, dass dieses weite Meer und diese Menschen wirklich da sind und morgen nicht in einem Traum verschwinden werden.

Heute war irgendwie so ein Tag. Es fing eigentlich an wie einfach nur ein Tag – dieser Begriff „einfach nur ein Tag“ ist auf der Thor eigentlich völlig unpassend, aber es fühlt sich doch so an – also einfach nur ein Tag, der ziemlich normal begann. Doch am Nachmittag wurde plötzlich ein Wal gesichtet und irgendwie blieb alles stehen. Alle rannten natürlich hin und her, um so viel wie möglich sehen zu können, genauso wie bei den Delfinen, und die geschäftige Ruhe auf dem Schiff brach auf. Dann standen wir da, an die Reling gequetscht, Ausschau haltend nach dem Wal. Diese Tiere, die sich keiner von uns wirklich vorstellen kann; von denen alle versuchten einen Blick zu erhaschen.

Und als ich dastand und hin und wieder einen Walrücken sah, der jeden ins Staunen versetzte, habe ich es wieder gemerkt: Ich bin hier – auf der Thor Heyerdahl, auf der KUS-Reise. So richtig. Und das Meer, die Wellen, die Sonne, sie sind wirklich da. Wir schippern auf diesem verhältnismäßig ziemlich kleinen Schiff durch einen riesigen Ozean, der tausende Meter tief ist; in dem so viel Leben ist, dass ich wahrscheinlich niemals sehen oder begreifen werde. Einfach so. Und all diese verschiedenen Menschen hier erleben genau das mit mir. Und auch wenn diese vielen Dinge bald Erinnerungen sein werden, werden es Erinnerungen sein, die wir zusammen haben. Wie wir da standen und diesen Wal beobachteten. Wale – noch nie hatte ich einen gesehen und da waren sie. Wahrscheinlich sogar mehrere, die stundenlang neben uns herschwammen, während Ruth begeistert versuchte die Walart herauszufinden. Es waren wahrscheinlich Finnwale, die uns ein kleines Stück der Reise begleitet haben und wohl Teil der ersten bedeutsamen Eindrücke hier sein werden. Und als jede Welle in dem Meer, das ich jeden Tag sehe, auf einmal so besonders schien, da habe ich mich weder gut noch schlecht gefühlt, sondern wie in einer Wolke aus Nichts, aber gutem Nichts. Schwerelos. Einfach nur ich und die Thor. Wie in einer Blase.

Und dann begann wieder die Wache. Denn wie bei jedem dieser Realisationsmomente gibt es ein Ende, an dem die nächste Aufgabe wartet, die dann aber auf einmal viel sinnvoller erscheint, weil dann alles mit einem warmen zufriedenen Gefühl gefüllt ist. Denn die Reise hier ist unglaublich und unfassbar, auch wenn man das manchmal aus den Augen verliert.

KUS-Ticker

Sonntag, 07.11.2021

Mittagsposition: 40°39,3N 011°51,1W
Etmal: 128 sm
Lufttemperatur: 18°C, Wassertemperatur: 19°C

  • 09:00 Uhr: Seemannsfrühstück mit selbstgebackenen Semmeln
  • 13:00 Uhr: Referat über Biolumineszenz von Sophia
  • 14:30 Uhr: Walsichtung
  • 14:30-16:30 Uhr: Walbeobachtung
  • 15:30 Uhr: Kaffee mit Bananenmilchshakes
  • 19:00 Uhr: Schiff auf Spanisch beschriften