Schiffsübergabe an Land

„Julian, Julian!“ „Mmmmh?“ „Junge, es ist fünf Uhr dreißig, und du hast 15 Minuten verschlafen!“ Das waren die schicksalsträchtigen Worte, mit denen ich am Sonntag zum Beginn der letzten größeren Wanderung geweckt wurde. Verschlafen, mit zusammengekniffenen Augen und noch wirrem Verstand wankte ich aus dem viel zu bequemen und einladenden Deckenwust meiner Koje mit Kurs auf die Kombüse, in der ich von all den anderen leidtragenden Mitgliedern der morgendlichen Backschaft erwartet wurde. Dank meines ungesund tiefen Schlafes war die geschäftige Atmosphäre in der Backschaft schon in vollstem Gange und als finale Tätigkeiten konnte ich nur noch mithelfen, das Mittagessen der KUSis, die am heutigen Tage ihren Landaufenthalt auf Pico oder Faial starten würden, fertigzustellen. Als ich das Essen runtertrug, konnte ich noch ein paar Gesprächsfetzen von seiten Ruths an die andere Schülerschaft in die Messe mithören: „… und denkt daran, die eigentliche Planung, Strukturierung und das Finden eurer Schlafplätze obliegt nur euch Schülern, wir von der Projektplanung mischen uns nicht in eure Wanderplanung ein.“

Das beschreibt die folgende Wanderung eigentlich optimal, denn der Landaufenthalt sollte sich grundlegend von den anderen unterscheiden: Alles, von der Wanderroute bis zum Schlafplatz, mussten wir Schüler selbst planen und finden, die Erwachsenen, die uns begleiteten, waren dazu angeregt, nur im äußersten Notfall in die Projektplanung einzugreifen. Die einzige Bedingung unseres Trips war, dass wir gewisse „Waypoints“ auf der Insel besuchen und finden mussten, sonst waren wir in der Gestaltung unseres Aufenthaltes völlig frei.

Nach einer Fährfahrt auf die Insel Pico startete schon unsere Expedition- im strömenden Regen. Da standen wir nun, zwar ein Haufen vom Regen unmotivierter Schüler, aber mit von Vorfreude strahlenden Augen, die nur darauf warteten, diese Insel mit all ihren landschaftlichen und kulturellen Feinschliffen kennenzulernen. Langsam aber stetig setzte sich unsere Wandergruppe in Bewegung, doch leider fraß sich die Kälte des Regens durch unsere Kleidung, was sehr an unserer Energie zehrte. Als wir dann nach einer Weile unseren Wanderweg, durchkreuzt durch einen vom Regen zu einem reißenden Fluss mutierten Bach, vorfanden, sank unsere Wandermoral noch weiter in Werte, die, wenn sie Temperatur beschreiben würden, fähig wären, fließendes Wasser binnen Sekunden in Eis zu verwandeln. So konnte unsere Wanderung mitnichten weitergeführt werden und deshalb suchten wir die nächsten 20 Minuten nach einem wind- und wettergeschützten Platz, wo wir unsere Mittagspause vollführen könnten. Dieser Platz zeigte sich in Form einer verlassenen Baustelle am Straßenrand und in der betongrauen Garage des Gebäudes verbrachten wir, uns langsam aufwärmend, die nächsten zwei Stunden, bis sich endlich die Sonne hervorkämpfte und der Regen sich seine Niederlage eingestand. Voller Motivation über die plötzliche Wärme machten wir uns auf zu neuen Erlebnissen und Erfahrungen.

Geraume Zeit nach Abschluss der Mittagspause trafen wir auf einen Campingplatz inmitten des Waldes, der ein kleines, weißes Ziegelhäuschen beherbergte. Der Platz war perfekt; es gab fließendes Wasser, Regenschutz und eine Kochstelle. Aufgrund all dieser nur allzu positiven Faktoren, entschlossen wir uns kurzum, hier die Nacht zu verbringen. Allgemein in der Gruppe äußerte sich immer mehr Unmut darüber, die Zelte aufzubauen und so kam uns die blendende Idee, uns einfach in das kleine Häuschen einzuquartieren. Dies taten wir dann auch mit größtem Erfolg.

Der zweite Tag wurde gestartet mit drei Kilo frischem Porridge und wurde fortgesetzt mit einer Wanderung zu einem purpur-roten Leuchtturm, der über ein Meer aus schwarzem Lavagestein ragte. Dort wurde erstmal eine Mittagspause an der Steilküste eingelegt, was im Nachhinein nicht die schlauste Idee war: schon im Vornherein sahen wir die Gischt gefährlich nahe an die Felswände spritzen und dann, mitten im Prozess des Konsumierens des mittäglichen Essens, erhob sich Neptuns Hand und rollte in kalter Nässe über die gesamte Gruppe. Die Welle traf uns alle – und schallend lachend und pitschnass saßen wir erst einmal alle wie vom Blitz getroffen da und mussten erstmal verarbeiten, was gerade passiert ist.

Gestärkt von der nassen Überraschung und dem Mittagessen führten wir den Trip fort, wobei wir einen Wanderweg entlang der Küste verfolgten. Der Wellengang an diesem Tage war besonders aufgewühlt, die Wellen waren teils so hoch, dass wir sogar von der Gischt getroffen wurden, wenn wir an fünf Meter hohen Steilklippen wanderten. Das war das erste Mal, dass ich an Land meine Regenjacke nicht aufgrund des Regens anziehen musste. Nach Abschluss des Küstentrails ergab sich wieder die Frage: Wo schlafen? Diese Frage klärte sich schnell, als ein freundlicher Bauer aus der Umgebung uns anbot, uns in seinem Sommerhaus einzuquartieren. Natürlich nahmen wir dieses Angebot mit Freuden an und so ergab es sich, dass plötzlich 13 KUSis ihren Platz auf der Ladefläche eines Pickups fanden mit Kurs auf das Sommerhaus eines Kuhbauern aus Pico. Das Sommerhaus entpuppte sich als ehemalige Windmühle, die der Bauer mit einem Freund restauriert und somit zu einem, rot-weiß wie eine Zuckerstange gefärbten Turm transformiert hatte. Zusammen aßen wir dann Abend mit dem Bauern, der uns mit Stolz Fotos von seine Kühen und Pferden zeigte. Und damit ging auch dieser Abend zu Ende.

Unser letzter Wandertag ging durch die pico’schen, vom UNESCO Welterbe geschützten Weinberge, die sich besonders durch die martialischen Lavagesteinmauern auszeichneten, die sich labyrinthähnlich über schier endlos viele Kilometer und Hügel zogen. Unsere Mittagspause verbrachten wir an einem natürlichen Schwimmbecken, das wir leider nicht zur Genüge nutzen konnten, da die hohen Wellen uns den Zugang zum Becken verwehrten. Ein letztes Mal stellte sich uns die Frage, wo wir die Nacht verbringen sollten. Um diese Frage zu klären gingen wir, einer Eingebung folgend in eine große, gelb bemalte Schule, wo wir nachfragten, ob wir hier vielleicht einen Schlafplatz finden könnten. Diese Frage wurde leider mit einem klaren Nein beantwortet, doch glücklicherweise erbarmte sich eine Lehrerin unserem Leiden und sie fragte ihren Mann (der Chef einer örtlichen Feuerwehrstation), ob es vielleicht die Möglichkeit gäbe, dass wir in der Feuerwache schlafen könnten. Die Antwort war das Beste, das wir uns hätten erhoffen können: Nicht nur durften wir in der Wache schlafen, nein, wir wurden sogar in ein Zimmer mit dreizehn flauschigen Betten verwiesen, was ungefähr der coolste Schlafplatz war, den wir uns erhoffen konnten.

Am nächsten (und letzten) Tag war die einzige Wanderung die zurück auf die Fähre, doch die Gefühle, die ich dabei hatte, waren gemischt: zwar war es schön, die andere Gruppe wiederzusehen, doch andererseits hätte ich auch nichts dagegen gehabt, drei weitere Tage auf der Vulkaninsel zu verbringen. Alles in allem war das der ungefähr coolste, erfahrungsträchtigste und lustigste Landaufenthalt, den wir meiner Meinung nach bisher hatten und es war mir eine große Freude, so viele verschiedene Menschen, Kulturen und Landschaften kennenzulernen.