Die stille und ehrfürchtige Ewigkeit der Nacht

Dass die Thor, unsere eigene kleine Welt, isoliert und abgeschnitten von der Außenwelt ist, ist uns schon in den ersten zwei Wochen klargeworden. Man lebt seine Tage in einem wunderschönen Rhythmus, wie die Wellen auf und ab wiegen, so bewegen wir uns auch flüssig durch diesen Alltag, in dem man kaum merkt, wie die Zeit verfließt. Jedoch spürt man dieses Gefühl der eigenen, alles einnehmenden Welt nie stärker, als unter dem klaren, schwarzen, sternenbesetzten Himmel, von dem der Mond jede Nacht auf uns herablächelt. Nachtwachen sind eine dieser wundersam-magischen Dinge, die das Leben auf der Thor so lebenswert machen. Warum, das kann ich euch gerne erklären.

Was macht eine Nachtwache aus?

Und zwar ist es nicht etwa die Wachzeit, denn dann hätten Wache 3 und Wache 4 ordentlich Pech gehabt. Wenn man in der kühlen, klaren Nachtluft nach oben blickt und das Sternenzelt, so groß und voll wie noch nie, sowie die spitze und helle Mondsichel am Himmel hängen sieht, ist das für mich eine Nachtwache. Wenn der Mond voll und groß am Himmel steht und seinen silbernen Schimmer auf das pechschwarze Wasser wirft, sodass man denken könnte, dort läge eine Straße über dem Meer, über die man ewig und ewig weiterlaufen könnte. Wenn alle unter Deck oder auf der Ladeluke friedlich schlafen und sich eine geisterhafte Stille über die Thor legt, wie ein Zauberbann, den niemand zu durchbrechen wagt. Bis auf die Wellen, die Segel und den Wind, die lassen sich von keinem bannen.

Was machen Nachtwachen so magisch?

Um diese Frage zu beantworten, muss ich von einer ganz besonderen Wache erzählen, die sich am 21.02. ereignete. Als Paula uns die Wache mit der Ankündigung übergab, dass wir sowohl die Bram, als auch das Großstengestag und den Außenklüver packen dürfen, dachte ich mir noch nicht viel dabei. Ich habe mir meinen Gurt angezogen und bin auf den Klüverbaum geklettert.

Ich bin davor noch nie nachts im Rigg gewesen, fällt mir auf. Einen Moment halte ich inne, tief über den halb gepackten Außenklüver gebeugt. Das leise Plätschern des Meeres, der Wind, der durch meine Haare streicht und an ihnen zerrt. Der Klüver, der im Rhythmus zu den Wellen auf und ab schaukelt. Als ich meinen Blick nach oben richte, kommt der Mond gerade hinter einer Wolke hervor und wirft seinen silbrigen Schein auf das Klüvernetz. Der Bick nach unten bringt einen atemberaubenden Ausblick: durch die Löcher des Netzes sehe ich direkt unter mir das Wasser und durch das Mondlicht zeichnet sich der Schatten der Thor schwarz ab.

Später an diesem Abend hat sich eine kleine Gruppe aus Wache und Freiwilligen auf dem Achterdeck versammelt, um eine Halse zu fahren. Habe ich schon erwähnt, dass ich Nachtmanöver liebe? Wenn alles dunkel ist und die Kommandos mehr geflüstert als gerufen werden, wenn alle wissen, was sie zu tun haben und in einem stummen, aber bestimmten Ablauf zusammenarbeiten. Wenn deine Hände nass von den wassergetränkten Tampen triefen und du weißt, dass du eigentlich in der warmen Koje liegen könntest, aber es dir egal ist. Wenn um dich herum nichts als schwarz ist und nur die Thor existiert, nur der Tampen, an dem du grade holst und die Sterne über dir. Man fühlt sich wie in einer magischen Trance, als gäbe es kein heute und kein morgen, nur das Jetzt, der Moment, der immer währt, der nie vorüber geht – die stille und ehrfürchtige Ewigkeit der Nacht.

KUS-Ticker

Dienstag, 21.02.2023

Mittagsposition: 31°01,6’N; 070°39,2’W
Etmal: 144,5 sm
Wetter: teilweise bewölkt; Temperatur: Luft 23°C, Wasser 21°C; Wind: WSW 5

  • Regulärer Wachbetrieb und Unterricht
  • 23:00 Uhr Halse

Mittwoch, 22.02.2023

Mittagsposition: 31°44,8’N; 068°06,4’W
Etmal: 144,0 sm
Wetter: teilweise bewölkt; Temperatur: Luft 22°C, Wasser 24°C; Wind: NNE 2

  • Regulärer Wachbetrieb und Unterricht