Eine ganz besondere Minute

Datum: 19.01.2025

Da ist Wind in meinen Haaren.
Da ist Salz auf meiner Haut.
Da ist ein Lächeln auf meinen Lippen.
Da ist die Sonne, die das Meer in ein goldenes Licht taucht und alles strahlen und glitzern lässt.

Um mich herum, da ist Gelächter, ein Wirr aus Stimmen. Die Stimmen der Menschen, mit denen ich jetzt schon drei Monate unterwegs bin. Jede Familie hat ihre eigenen Traditionen, so ist das auch in der KUS-Familie. Immer wenn es essen gibt, kommt eine Person aus der Backschaft mit einer kleinen Glocke herum, damit alle Bescheid wissen.

Sobald alle auf dem Hauptdeck sind, erklärt die Backschaft, was sie zu essen gemacht hat und bevor dann alle losgehen, um sich Essen an einem der beiden Kombüsen-Bulleyes abzuholen, gibt es eine stille Minute. Diese stille Minute wird von einem kleinen Läuten eingeleitet und es wird ruhig auf der Thor.

Nur der Wind, wie er in die Segel bläst, die Wellen, die die Thor hin und her wiegen und die Tampen, die knarzen.
Ich schaue kurz in die Runde – viele haben die Augen geschlossen und die Backschaft schaut verträumt aus dem Bulleye. Einige fangen an zu beten und falten ihrer Hände oder schauen in den Himmel. Blickkontakt mit anderen wird eigentlich gemieden und wenn, schaut man sich kurz an, lächelt und schaut dann schnell weg. Das hat nichts Böswilliges, aber die stille Minute ist so ein Moment für sich, mit so einer ganz besonderen Atmosphäre.

Ich drehe meinen Kopf zur Seite und schaue in die Ferne, sehe, wie die Gischt spritzt und sich durch die Sonne für wenige Sekunden einen Regenbogen bildet. Einige Wellen brechen so schnell, dass es ausschaut, als würden sie irgendwie runterfallen und in der Luft bleiben dann meist ein paar Tropfen stehen (als wären sie vergessen worden), die eine wunderschöne türkise Farbe annehmen.

Manchmal ist es einfach das – dieses ewige Blau anschauen und sich den Kopf einfach freiblasen lassen. An anderen Tagen denke ich an ganz andere Sachen. Manchmal sind es nur alltägliche Dinge wie zum Beispiel, dass ich noch die Bordwäsche anstellen muss oder denke über das nach, was an diesem Tag passiert ist.

Aber häufig brauche ich diese Minute am Tag, um mir vor Augen zu führen, was ich gerade mache: mit einem Segelschiff um die halbe Welt segeln.

Man glaubt es kaum, aber auf der Thor entwickelt sich ziemlich schnell ein Alltag und man ist so in seinem Trott – mit Wache gehen, Schule und Reinschiff. Manchmal ist dieser Alltag sogar fast ein bisschen stressig und in dieser stillen Minute ist man gezwungen, mal in sich zu gehen und man kann sich vor Augen zu führen, was man gerade eigentlich macht und was man schon alles erlebt hat. Ich denke daran, wie ich Segel setze, wie ich am Ruder stehe und die Thor von den Wellen hin und her geworfen wird. Daran, wie ich auf dem Barú stand und die Sonne aufging. Manchmal denke ich auch an zuhause. Was macht meine Familie gerade?

Ich glaube, ich bin nicht die Einzige, die diese Minute mindestens einmal am Tag braucht.

Die stille Minute wird von allen sehr ernst genommen, sodass sogar erst dann „DELFINE AN BACKBORD!“ geschrien wird, wenn die Minute auch wirklich vorbei ist. Andere nutzen das dann auch gerne mal aus und probieren, wie lange man die stille Minute so rauszögern kann, bis alle komisch schauen – sehr witziger Moment… Ich glaube, der Rekord liegt bei einer Minute und 40 Sekunden. Natürlich gibt es dann auch die, die besonders hungrig sind und natürlich ganz aus Versehen das Gleichgewicht verlieren, sodass es schon nach 30 Sekunden Klingeling macht und der Großteil zum Bulleye stürzt, um Essen zu bekommen. Besonders hart ist es allerdings, wenn unmittelbar vor der stillen Minute eine Welle übers Schanzkleid kommt und man sich das Lachen eine ganze Minute verkneifen muss, da alle nass geworden sind.