Lehrerin – mal etwas anders und grenzenlos …

Mein erster Gang geht morgens aus dem Deckshaus, wie die letzten Tage sehe ich Weite um mich herum – grenzenlos. Vor mir, neben und hinter mir sehe ich eigentlich nichts als Wasser und trotzdem könnte ich stundenlang auf das Meer schauen. Neben dem gewöhnlichen Wachbetrieb an Bord beginnt langsam mehr Treiben, denn heute ist ein „ganz normaler“ Unterrichtstag für die Hälfte der SchülerInnen. Die andere Hälfte hat Fahrwache und Praktikum. 7 Tage liegen noch vor uns bis wir die kleinen Antillen erreichen. Insgesamt sind das in dieser Etappe 2180 sm, um in den Wachalltag zukommen und zu unterrichten. Ich werde heute eine Englischstunde über changes halten. Auch in meinem Leben hat sich in den letzten drei Monaten so Einiges verändert. Ich begebe mich auf meinen recht kurzen Schulweg, hinauf auf das Hauptdeck.

Schuhe? – brauche ich nicht, da warme Wellen uns um die Füße spülen.

Magnete und Rutschdecken – sind meine neuesten Verbündeten gegen Windböen.

Flackernde Segel und fliegende Fische – die neuen Unterrichtsstörungen.

„Entschuldigung, ich stand im Stau im Niedergang“- die neuen Ausreden bei Zuspätkommen.

Durch die Strecktaue schlüpfe ich vor die Tafel und blicke in Gesichter, die mir mittlerweile sehr vertraut sind, deren Persönlichkeit man in den letzten drei Monaten mehr als gut kennengelernt hat und die auch mich gut kennen. Ich blicke in Gesichter, die lange Zeit keinen Englischunterricht gehabt haben und motiviert sind zu lernen. Gleichzeitig weiß ich, dass einige wenig geschlafen haben, dass sie gerade Bauchschmerzen haben, sich neue Freundschaften aufbauen, sie gerade mit der Vorbereitung ihres Referats beschäftigt sind oder sie bis spät in die Nacht über Gott und die Welt diskutiert haben. Definitiv ist der Unterricht nässer, wackeliger und sowohl Schüler und ich müssen teilweise durch den Wind rufen. Abgesehen von der phänomenalen Umgebung und der durch das familiäre Zusammenleben gegebenen Beziehungsebene, fahren wir auf englischsprachige Inseln zu. Das Lernen bekommt so eine neue Bedeutung, jeder weiß, dass wir die Sprache bald benötigen werden, wenn wir die Landesgrenze überschreiten. Die Unterrichtsinhalte habe ich der Reiseroute angepasst und freue mich auf bald stattfindende authentische Sprachanwendungssituationen auf Dominica beim Wiederaufbau des Hauses von Brendalee und ihrer Familie sowie beim gemeinsamen Erkunden von Land und Leuten.

Neben dem Lehren und Unterrichten, lerne auch ich jeden Tag neu. Ich lerne eigene Grenzen kennen und überschreiten, gewöhne mich immer mehr an das Leben in der großen Gruppe und auf dem Schiff. Ebenso lässt sich anhand der Vielfalt an Persönlichkeiten sowie Fähigkeiten jedes einzelnen Besatzungsmitglieds eine Menge lernen.
Gerade am Anfang habe ich mich oft gefragt, welche Rolle ich einnehme. Besatzungsmitglied, Lehrerin, Freundin oder ein KUS-Familienmitglied? Mittlerweile verschwimmen diese miteinander, ähnlich, wie sich nach Sonnenuntergang der Himmel mit dem Meer verbindet. Die verschiedenen Rollen lassen sich nicht wirklich voneinander abgrenzen. In einem Moment bin ich selbst Lernende im Segeln und in der Navigation, wir gehen gemeinsam Wache und setzen die Segel. Im anderen Moment stehe ich als Lehrerin für Englisch, Deutsch oder Spanisch vor der Klasse oder gebe einen Musikworkshop. Am Nachmittag weihen wir alle miteinander den bordeigenen Spa-Bereich mit Pool „Zum Lümmelbeschlag1“ ein, singen zusammen Griechischer Wein und Blowin‘ in the wind, in einer völlig überfüllten Bibliothek ohne Sauerstoff und in anderen Momenten tröstet man bei Heimweh. Gemeinsam lag man krank auf der Ladeluke, tanzte in Kap Verde auf Straßenpartys anlässlich des einsetzenden Regen mit Einheimischen, putzt bei Reinschiff und holt zusammen den Niederholer beim Bergen des Großstengestags in der Nachtwache durch. Beim Einschlafen höre ich, wie eine Gruppe nach guten Formulierungen für den Blogeintrag sucht, der mir morgen abgegeben werden muss. Wie kann das alles zusammenpassen?

Die Grenze Zuhause und Arbeit gibt es nicht wirklich, doch das ist auf der Reise nichts Neues, denn überhaupt erscheint mir in den letzten Wochen so einiges grenzenlos. Grenzenlos erscheint mir der Sternenhimmel, die Vielfalt an Charaktereigenschaften an Bord, die Gedanken, die einem in den Sinn kommen, wenn man in die Weite schaut, der Ozean und manchmal auch die 150 Kartoffeln, die in einer Backschaft gemeinsam mit den SchülerInnen geschält werden müssen. Ich freue mich darauf, zusammen neue Grenzen zu überschreiten und weiterhin Grenzenlosigkeit zu erleben.

The only borders I saw were the mind of human beings. Thor Heyerdahl

1 Anschlagpunkt des Baumes am Mast