Abschied und Anfang – die Reise geht weiter

Jetzt waren wir 6 ½ Monate weg. Weg von unserem Zuhause. Weg von unserer Familie. Weg aus unserem Leben an Land. Nein, wir hatten ein neues Leben an Bord. Ein neues Leben, eine neue Familie, ein neues Zuhause. Wir hatten 6 ½ Monate die wahrscheinlich bisher beste Zeit unseres Lebens, mit den unglaublichsten Menschen an den unglaublichsten Orten mit einem Schiff, mit unserem Zuhause, mit der Thor. Und jetzt, jetzt von einem Moment auf den anderen sollte alles, wirklich alles, dieses neue Leben, vorbei sein. Das kann nicht sein!

Der Abschluss. Bei uns war der Abschluss von diesem neuen Leben, von dieser Reise nicht beim Einlaufen in Kiel am 20.04.2024. Jeder Jahrgang hat einen Abschlussabend auf der Thor, der auch Captains Dinner genannt wird. An diesem Abend ist nicht nur die momentane Besatzung dabei, sondern es sind auch alle anderen eingeladen, die bei unserem Jahrgang mitgefahren sind. So verschickten wir auf den Azoren wunderschön bemalte Einladungskarten. Bei so einem besonderen Treffen gibt es natürlich auch ein besonderes Essen, wofür wir ein unglaubliches 5-Gänge-Menü auf die Beine gestellt haben! Daher fingen für einige von uns die Vorbereitungen schon früh an.

Am Nachmittag wurde die Messe wunderschön dekoriert. Jeder Tisch repräsentierte eines unserer besuchten Länder. Nach einem Großreinschiff glänzte das ganze Schiff und letztendlich auch jeder einzelne von uns! Plötzlich kamen Rufe von Deck. „Die Stammis sind da!“ Was war das für ein schöner Moment, die ganze Crew der Reise auf dem Schiff wiederzusehen! Nachdem Ruth und Detlef mit einer Rede diesen Abend an Deck eingeleitet hatten, gingen wir in die Messe. Zoe und Thea, die uns durch diesen Abend moderierten, organisierten in einer Verlosung der Sitzplätze. Der letzte gemeinsame Abend weckte bei vielen Herzen und Köpfen die Kreativität. Es gab sehr viele, unglaubliche, emotionale kulturelle Beiträge zwischen und während den Gängen. Von Gedichten über Liedern über Texten über Ideen. Es wurden Erinnerungen geweckt und viele Tränen kullerten an diesem Abend, doch es war wunderschön. Es hätte keinen besseren Abschluss geben können, es war die absolut perfekte Mischung aus traurig, witzig, fröhlich, kreativ und emotionsvoll. Am Ende des Abends gab es noch eine Verlosung besonderer Gegenstände der Reise: zwei Flaggen, die jedes Wetter des letzten halben Jahres überstanden, ein Pokal, den wir bei unserem Gewinn beim Fußballspiel in Panama gewonnen und zwei nautische Bücher, die wir bei der astronomischen Navigation benutzt hatten. Traditionsgemäß klart der Stamm beim Captains Dinner die Kombüse auf, also haben sie es auch dieses Jahr mit guter Stimmung und Musik gemacht.

Bei uns war die Stimmung etwas anders, denn das Bewusstsein des Abschiedes war schon längst da und jetzt sollten wir uns ein letztes Mal eine „Gute Nacht“ wünschen.  Wir standen eine sehr lange Zeit im Gang und haben uns umarmt. Denn diese Bindung, die wir nach einem halben Jahr zu unserer neuen Familie bekommen hatten, war nicht in Worte zu fassen. Das ins Bett gehen, das Wissen, dass wir unsere letzte Nacht hier verbringen werden, wollten wir nicht akzeptieren. Nach einiger Zeit kamen die Stammis und haben uns ins Bett geschickt, denn der nächste Tag sollte lang und sehr anstrengend werden. Viele von uns lagen noch lange wach in ihren Kojen, doch irgendwann fing dann für jeden die letzte Nacht an.

Der Tag des „Auf -Wiedersehen-Sagens“ begann früh und wir hatten ein letztes Mal ein vollen KUS-Tagesplan. Um 6.00 Uhr war allgemeines Wecken, was wir als komplette Wache 3 zusammen gemacht haben. Es wurde ein allerletztes Mal gemeinsam gefrühstückt. In der Messe herrschte eine komische Stimmung. Es war nicht so wuselig, laut und durcheinander wie sonst. Es lag ein bedrückendes Gefühl über uns allen; so, als wüssten alle, was passiert, aber niemand traute sich, es laut auszusprechen. Dieses Frühstück war gefühlsmäßig sehr durchmischt.

Nachdem das Frühstück beendet war, haben wir uns auf dem Hauptdeck versammelt. Der Ort, an dem wir gemeinsam gelacht, gelernt und gelebt haben. Der Ort, an dem wir weiße Weihnachten gefeiert haben, auf das neue Jahr in Deutschland angestoßen und an dem wir gemeinsam stundenlang getanzt haben. Nun standen wir dort in zwei u-förmigen Reihen, die sich gegenüberstanden. Es sollte ein Abschied unter uns sein, ohne die Angst, jemanden zu vergessen. Ein Abschied vor dem trubeligen Ankommen. Jetzt hieß es jedem „Auf Wiedersehen“ sagen. Für jeden hatten wir 45 Sekunden. Mit jedem Schritt weiter nach links, jeder weiteren liebevollen und großartigen Person, die ein Platz in meinem Herzen gewonnen hatte, wurde es schwerer. Mit jedem Schritt rückte die Realität näher. Mit jedem Schritt drang die Erkenntnis tiefer in mir ein und es tat weh. Es durchbohrte mich. Die 45 Sekunden wurden immer weiter hinausgezögert und aus den zwei Reihen wurde immer mehr ein Gewusel von weinenden Menschen. Aber es waren nicht irgendwelche Menschen, sondern unsere neue Familie. Die Menschen, mit denen wir das Unglaubliche erlebt hatten, mit denen wir so unfassbar viele Erinnerungen teilten und Menschen, auf die man immer und überall zählen konnte.

Nachdem wir allen „Auf Wiedersehen“ gesagt hatten, wurden wir wieder in den KUS-Alltag zurückgeworfen und Reinschiff stand an. Das letzte Mal gemeinsam putzen und aufräumen. Die letzten Segel hafenfein packen, das Sonnensegel abbauen, das Deck schrubben und vieles mehr. Und dann, als die Thor glänzte vor Liebe, Stolz und Marmeladenglas-Momenten, wurde es ernst. Der Anker wurde gehievt. Toni und ich durften ein letztes Mal ins Klüvernetz, um die Ankerkette zu spülen und als der Anker oben war, ging es los. Dann hieß es für uns: fertigmachen, Gurte anziehen und auf dem Hauptdeck treffen. Und dann ins Rigg. In mir stieg die Nervosität. Wie wird es sein, meine Eltern wieder zu sehen, was sage ich, werde ich mich freuen? Plötzlich standen wir alle im Rigg – ein letztes Mal, als Team! Und wir fuhren in Richtung Pier. Die Thor glitt elegant durchs Wasser. Erinnerungen zogen in mir vorüber. Minuten später war eine Menschenmasse zu erkennen. Es war ein komisches Gefühl, dort oben zu stehen und Menschen zu sehen, die einem vor der Reise so nahe waren.

NIE OHNE MEIN TEAM!!!

Nachdem Detlef „Schiff in Position“ gerufen hatte und die Gangway die Thor mit dem Land verband, waren wir da! Während des Anlegemanövers hatte ich schon meine Familie entdeckt und in mir feierten meine Gefühle eine Party. Ich kann nicht sagen, was ich genau in dem Moment gefühlt habe, als ich den Schritt auf die Gangway gemacht habe. Es war ein bunter Mix aus Freude, Angst, Nervosität, Neugier, Unsicherheit und eigentlich fast allen Gefühlen, die es gibt. In dem Moment, in dem ich in den Armen von meiner Mama lag, schlug alles in Freude um. Nach 10 Minuten Begrüßung ging es zurück auf die Thor und der offizielle Begrüßungsteil begann. Reden, musikalische Beiträge und die Verleihung der Seemeilenbestätigung. Als der offizielle Teil abgeschlossen war, wurde das Buffet eröffnet, wir durften unseren Familien unser Zuhause zeigen und dann mussten auch schon die ersten von uns gehen, damit begann der schwerste Teil. Jetzt wirklich „Auf Wiedersehen“ sagen. Es tat weh, mehr als der Abschied zu Beginn der Reise. Es war nicht nur der Abschied von den einzelnen wundervollen Menschen, es war der Abschied von der ganzen riesigen Familie, dem Zusammensein mit allen auf der Thor, mit dem Wissen, es wird nie mehr so sein. Und das tut unfassbar weh!
Aber ein Abschied bedeutet auch einen Anfang – die Reise geht weiter und wir freuen uns sehr auf ein Wiedersehen mit unserer KUS-Familie und der Thor.